Am 24.September finden die nächsten Wahlen zum Deutschen Bundestag statt. Soviel vorweg: Ein Teil der Bundestagsparteien wartet mit überraschenden neuen Forderungen für LGBTIQ* auf.
Nach der Rückschau ist ja doch noch einiges passiert. Mit an Erbärmlichkeit kaum zu überbietender Demütigung der Opfer hat der Bundestag die Rehabilitierung eines Teils der nach §175 Verurteilten beschlossen. Außerdem wurde innerhalb weniger Tage die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Damit fallen zwei Hauptforderungen vergangener Jahre der Parteien links vom bürgerlichen Lager weg. Und ich werde im Folgenden auch nicht mehr auf diese Forderungen eingehen, auch wenn die Wahlprogramme teilweise vor den aktuellen Bundestags-Beschlüssen entstanden und daher noch entsprechende Forderungen enthalten.
Ein erster Blick auf die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien sowie der FDP zeigt, dass sich die Frontenbildung zwischen CDU und CSU auf der einen Seite und SPD, Linke, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf der anderen Seite vertieft.
CDU/CSU: Erstmals taucht das Thema Gleichberechtigung von LGBTIQ* überhaupt nicht mehr im Wahlprogramm der CDU auf. Weder die Reform des Transsexuellengesetzes, noch Aktionspläne gegen Homophobie, die zumindest im letzten Koalitionsvertrag noch Thema waren, werden von der CDU angesprochen. Wie auch in den letzten Jahren wird von ihr die Familie als heterosexuelle Ehe definiert. In Abgrenzung dazu heißt es im Wahlprogramm der Unionsparteien: „Verantwortung wird auch in anderen Formen des Zusammenlebens, die auf Dauer angelegt sind, übernommen und gelebt: Zum Beispiel durch Alleinerziehende, Patchwork-Familien, nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und die bestehenden eingetragenen Lebenspartnerschaften.“ Familie ist dort, wo der heterosexuelle Eheschein ist. Willkommen in den 50ern
Die anderen Parteien präsentieren sich, wie zu erwarten, weit fortschrittlicher – zumindest in Bezug auf Toleranz und Akzeptanz gegenüber geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten. Daher wird an dieser Stelle auf das bloße Aufzählen und Zitieren verzichtet, vielmehr soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, die hinter den Forderungen stehenden Konzepte und Ansätze näher zu beleuchten. Die Reihenfolge der hier vorgestellten Positionen ergibt sich anhand der letzten Bundestags-Wahlergebnisse.
SPD: Die Sozialdemokratische Partei stellt ihr Wahlprogramm unter den Schwerpunkt Gerechtigkeit. Dieser Punkt durchzieht das ganze Wahlprogramm. „Gerechtigkeit“ und „Gleichberechtigung“ sind die Schlagworte mit denen die SPD ihre Forderungen begründet und untermauert. Das führt vielfach zu Verallgemeinerungen und lässt spezielle Bedürfnisse von Minderheiten unter den Tisch fallen oder speist sie mit Floskeln ab. So ist die längst überfällige Reform des Transsexuellengesetzes nicht konkret sondern sehr schwammig formuliert. „Wir werden die Lage von trans- und intergeschlechtlichen Menschen verbessern und gewährleisten, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen können. Das betrifft medizinische, gesundheitliche, soziale und rechtliche Aspekte.“ Auch sind außerhalb des Mainstreams positionierte Forderungen nicht zu entdecken. Immerhin definieren sie Familie, ganz klar als Ort, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, unabhängig von sexueller Orientierung oder Ehestatus. Dies geschieht im Übrigen fast wortgleich zu den Programmen von Linke und Grünen. Neu ist, dass auch andere Formen des Zusammenlebens reguliert werden sollen, ohne genauer zu erklären, wie das konkret gemeint ist: „Wir wollen ein modernes Familienrecht, das die Vielfalt von Familien widerspiegelt. Familien mit verheirateten, unverheirateten oder gleichgeschlechtlichen Paaren; getrennt, gemeinsam oder allein Erziehende; Stieffamilien, Regenbogenfamilien, Patchworkfamilien oder Pflegefamilien. Wir sorgen für Klarheit in all diesen Konstellationen, indem Rechte und Pflichten eindeutig definiert werden.“ Das ist neu. Der Beitrag kommt gleich noch einmal darauf zurück. Ergänzend wird die Reform des Antidiskriminierungsgesetzes um ein Verbandsklagerecht gefordert (analog zu den Parteien Grüne und Linke). Die Forderung bleibt jedoch weit hinter den Anforderungen des Evaluationsberichtes nach 10 Jahren Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zurück[i]. Ebenso im Plan der Sozialdemokrat_innen ist eine Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes um ein Diskriminierungsverbot aufgrund der „sexuellen Identität“. (Das fordern ebenso Linke, Grüne und FDP.)
Die SPD fordert darüber hinaus die Abschaffung des Ehegattensplittings für neue Ehen (bestehende Ehen sollen diesbezüglich Bestandsschutz haben), dafür möchte die SPD ein Familiensplitting einführen – dabei handelt es sich um ein mit Kinderfreibeträgen versehenes und in der Höhe abgespecktes Ehegattensplitting.
Die Partei Die Linke, in den 90ern mit der Forderung nach einem Lebensweisenkonzept aufgetreten, welches dann zunehmend von der Forderung nach einer Ehe für Lesben und Schwule verdeckt wurde, entdeckt dieses Thema neu und fordert ebenfalls ein neues Rechtsinstitut neben der grundgesetzlich geschützten Institution Ehe.
Im Wahlprogramm stellt Die Linke – fast gewohnheitsmäßig – schwerpunktmäßig die soziale Frage und die Forderung nach friedlichen Konfliktlösungen in den Mittelpunkt. Die Linke stellt Geschlechtergerechtigkeit und die Gleichstellung aller Lebensentwürfe, sexueller Orientierungen sowie „geschlechtlichen und ethnischen Identitäten“ in ein Gesamtkonzept einer gesellschaftlichen Emanzipation. Dazu wird ein „linker Feminismus“ definiert und gehört die Forderung, Selbstorganisationen zu fördern. Grundsätzlich will Die Linke „alle Schritte [unterstützen], die dabei helfen, mit der staatlichen und gesellschaftlichen Heteronormativität, Cisnormativität und der Zweigeschlechtlichkeit als Norm zu brechen“. Mit der Öffnung der Ehe fordert Die Linke gleichzeitig die sofortige Abschaffung ehelicher Privilegien zugunsten einer Förderung von Gemeinschaften, die die mit Kindern und Pflegebedürftigen leben. Entsprechend steht die Abschaffung des Ehegattensplittings zugunsten anderer Fördermodelle im Forderungskatalog. Ebenso wie die SPD fordert Die Linke neue Regelungen für andere Partnerschaftsmodelle, außerhalb der bürgerlichen Ehe. Sie bezeichnet dieses Konzept als „Wahlverwandtschaften“ : „Hierbei sollen nicht nur monogame Zweierbeziehungen Verantwortung füreinander übernehmen dürfen, sondern jegliche Gemeinschaft, die sich einander verbunden fühlt. Dies kann eine mehr als zwei Personen umfassende Beziehung meinen. Diesen Menschen ist ein umfangreiches Besuchsrecht im Krankheitsfall, Adoptionsrecht und Aussageverweigerungsrecht einzuräumen. Gleichzeitig werden besondere Zuwendungen fällig, wenn ein Angehöriger (nach dem Wahlverwandtschaftsrecht) gepflegt werden muss oder sich Kinder in einer Wahlverwandtschaft befinden.“ Weitere Forderungen betreffen Sorgerecht, das für bis zu vier Personen gefordert wird und ein ungehinderter Zugang zu Reproduktionsmedizin. Für Trans* und Inter*Personen werden weitreichende Verbesserungen beschrieben, die allein hier zitiert, den Rahmen sprengen würden (und sie wären einen eigenen Artikel wert!). Im Wesentlichen geht es der Linken um eine weitreichende Abschaffung der Pathologisierung von Trans*- und Inter*-Personen und ihre umfassende Selbstbestimmung. Bemerkenswert ist noch, dass Die Linke sich explizit dagegen wendet, die „queere“ und „muslimische Communitiy“ gegeneinander aufzuhetzen. Sie zeigt in diesem Zusammenhang antimuslimischen Rassismus explizit die Rote Karte – und deutet darüber hinaus zumindest an, dass sich Identitäten nicht aufspalten lassen und es unter queeren Leuten Muslim_innen gibt sowie unter Muslim_innen Queers. Unter dem Gesichtspunkt, dass Homo- und transfeindliche Übergriffe seit dem Aufschwung von Rechtspopulisten und anderen radikalen Gruppen zunehmen fordert die Linke auch eine bessere Gewaltprävention und die Unterstützung von Präventionsprojekten und Organisationen ein, die sich mit der Hilfe für Gewaltopfer beschäftigen.
Das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen setzt insbesondere auf ökologische Aspekte und einen Menschenrechtsdiskurs; aus diesen bezieht es seine Forderungen . Analog zur SPD fordern die Grünen, dass neu geschlossene Ehen ohne das Ehegattensplitting auskommen sollen. Stattdessen sollen sie ein „Familien-Budget“ erhalten. Auch die Grünen wollen Menschen außerhalb der bürgerlichen Ehe unterstützen, bleiben dabei jedoch seltsam vage: „Zu einer modernen und innovativen Familienpolitik gehört für uns aber auch, Menschen zu unterstützen, die jenseits von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft verbindlich und solidarisch zusammenleben. Kinder aus allen Familienformen wollen wir gleichbehandeln und unterstützen.“ Für Trans*Menschen fordern die Grünen einfache Verfahren für die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags; ein Ende der Pathologisierung wird ebenso gefordert, wie eine dritte Möglichkeit für einen Geschlechtseintrag im Pass. Geschlechtszuweisende und -vereindeutigende Operationen an intergeschlechtlichen Kindern sollen verboten werden. Ansonsten setzt sich die Partei für die Stärkung der Rechte sexueller Minderheiten weltweit ein, fordert einen „zeitgemäßen Umgang“ mit HIV („Das heißt für uns, umfassende Aufklärung und passgenaue Prävention sowie frühe Diagnose, Therapie und Unterstützung statt Stigmatisierung und Ausgrenzung. Dazu gehört auch das Potential der medikamentösen Prohylaxe vor HIV zu nutzen“) und will über Kollektiventschädigungen Wiedergutmachung für historisch begangenes Unrecht, auch außerhalb des Paragraphen 175, einfordern und LGBTIQ*-Projekten zukommen lassen. Gezielt setzt sich die Partei entsprechend ihres Selbstverständnisses für einen bundesweiten Aktionsplan ein und will: „Forschung, Aus- und Fortbildung bei Polizei, Justiz und anderen staatlichen Akteuren verstärken – insbesondere im Blick auf trans* Kinder und Jugendliche, auf Prävention und eine sensible Opferhilfe. Bildungs- und Jugendpolitik soll Menschenrechte und die Vielfalt sexueller Identitäten stärker berücksichtigen.“
Die nicht mehr in Bundestag vertretene FDP geht mit der altbekannten Forderung nach Individualisierung und einem grenzenlosen Markt in den Wahlkampf. Neu ist der massive Bezug auf Digitalisierung als gesellschaftlichem Heilsbringer. Eine Definition von „Familie“ liefert sie im Gegensatz zu allen anderen Parteien nicht. Sie fordert vor allem, den „Rechtsrahmen für Regenbogenfamilien“ zu verbessern. Konkret sollen „Elternschaftsvereinbarungen […] bereits vor der Empfängnis wirksam geschlossen werden können. Mehreltern-Familien sind Realität und müssen auch bei der rechtlichen Elternschaft abgebildet werden.“ Entsprechend fordern sie die „Einführung der Verantwortungsgemeinschaft als Rechtsinstitut neben der Ehe“ ein. Dazu schreiben sie: „In einer Zeit, in der traditionelle Familienstrukturen gerade im Alter nicht immer tragen, wächst der Bedarf an neuen Formen gegenseitiger Absicherung – jenseits von Verwandtschaft oder Liebesbeziehungen. Deshalb wollen wir im Bürgerlichen Gesetzbuch neben der Ehe das Rechtsinstitut der Verantwortungsgemeinschaft mit flexiblen Bausteinen der Verantwortungsübernahme zwischen zwei oder mehreren Personen einführen. Um Rechtsklarheit gegenüber anderen Verpflichtungen zu wahren, dürfen diese Personen weder verheiratet, verpartnert oder in gerader Linie miteinander verwandt sein. Begünstigungen durch den Staat im Steuer- und Sozialrecht, aber auch im Erbrecht, sind nur gerechtfertigt, wenn die Partner volle Unterhalts- und Einstandspflichten wie Ehepaare übernehmen“. Daneben fordern die Liberalen mehr Geld für die Magnus-Hirschfeld-Stiftung, die Abschaffung des Blutspendeverbots für Schwule und die Senkung diskriminierender Hürden im Personenstandsrecht für und die Übernahme von Behandlungskosten bei Transsexualität. Zu Intergeschlechtlichkeit finden sich bei den Liberalen keine Ausführungen; auch spricht sie sich nicht gegen Pathologisierungen von Trans* und Inter* aus.
Es fällt auf: SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und FDP sprechen sich in ihren Wahlprogrammen zur Bundestagswahl in verschiedener Intensität für die rechtliche Anerkennung alternativen Familienmodelle aus. Während SPD und insbesondere die Grünen sehr vage bleiben, präsentiert die Linke mit ihrem Wahlverwandtschaftskonzept eine konkrete Idee für ein Rechtsinstitut jenseits der Ehe. Auch die FDP definiert eine „Verantwortungsgemeinschaft“ als neues Rechtsinstitut, setzt es aber eher funktional und auf fiskalischer Basis an und nicht auf Basis des Zusammenlebens (Zeugnisverweigerung, Mietrecht etc.). Sollte es zu einer schwarz/gelben Koalition kommen, bliebe davon, insbesondere unter dem Aspekt der kompletten Themenverweigerung durch die Union, jedoch sicher nichts mehr übrig und mangels anderer grundsätzlicher Forderungen dürfte im Themenfeld LGBTIQ* ein ähnliches Nichtstun zu erwarten sein, wie in der letzten schwarz/gelben Koalition.
Vor dem Hintergrund der zuletzt zumindest punktuellen Rehabilitierung der Opfer des §175 ist verwunderlich, dass Lesben in den Wahlprogrammen noch immer keine Aufmerksamkeit bekommen. Über viele Jahrzehnte hinweg wurden lesbischen Müttern in der BRD von den Behörden die Kinder entzogen. Teilweise konnten die Mütter ihre Kinder gar nicht sehen! Das – wie leider so oft – Lesben bei der Betrachtung von Unrecht und Diskriminierung und Anstrengungen zur Rehabilitierung übersehen werden, ist skandalös!
Exkurs: …als PS:
Kurz erwähnen möchte ich noch die AfD, die Alternative für Deutschland, die weit über ihre Bedeutung hinaus Öffentlichkeit generiert und möglicherweise in den Bundestag einziehen wird. Neben den völkischen, rassistischen Darstellungen, von denen mensch schon genug angeekelt ist, sondert sie auch gegen LGBTIQ*-Personen allerlei Unflat ab.
Die Ehe wird als Verbindung von Mann und Frau definiert. Familie besteht aus Sicht der Rechtsextremen explizit und ausschließlich aus „Vater, Mutter und Kinder“. Familie und insbesondere Frauen werden unter dem Blickwinkel Bevölkerungspolitik und „Erhaltung des Staatsvolkes“ betrachtet, alternative Lebensformen zur heterosexuellen Ehe werden abgelehnt und aktiv bekämpft. So wendet sich die AfD beispielsweise gegen die finanzielle Unterstützung von Organisationen, die Alleinerziehende unterstützen wollen. Sämtliche Gleichstellungsforderungen werden als „Gender-Ideologie“ diffamiert. Dazu gehören der „equal pay day“, ebenso geschlechtergerechte Sprache, Gleichstellungsbeauftrage oder Mindestquotierungen. Beim Thema Sexualität setzen sie auf Forderungen der 1950er Jahre, schwafeln von „Frühsexualisierung“ und „Genderwahnsinn“ und meinen damit frontal alles, was nicht ihrem Idealbild einer heterosexuellen Verbindung von Mann und Frau (beide natürlich „blutsdeutsch“) entspricht. Genderforschung und Sexualpädagogik sollen abgeschafft werden (spannenderweise fordert die AfD wenige Seiten später, die Autonomie und Unabhängigkeit von Wissenschaft zu stärken). Auffallend, dass im Wahlprogramm der AfD nicht die Wiedereinführung der Prügelstrafe gefordert wird – ihr Text geht vollständig in Richtung solcher Verrohung.
Die Wahlprogramme:
(1) CDU/CSU, online
(2) SPD, online
(3) Die Linke, online
(4) Bündnis 90 / Die Grünen, online
(5) FDP, online
Lesenswert:
(A) „10 Jahre Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – Sekt oder Selters?“, online
(B) Zur Entwicklung von “Wahlverwandtschaftskonzepten”: „Homo-Ehe oder Solidaritätsvertrag“, online
[i] Vgl.: https://verqueert.de/10-jahre-allgemeines-gleichbehandlungsgesetz-agg-sekt-oder-selters/
[…] „Zeit für neue Verwandtschaften! – die Parteien zur Bundestagswahl“ https://verqueert.de/zeit-fuer-neue-verwandtschaften-die-parteien-zur-bundestagswahl/ […]