Nach 5 Jahren rot-schwarzer Koalition darf am 9. Oktober in Niedersachsen wieder gewählt werden. Wahlberechtigt sind deutsche und EU-europäische Staatsangehörige über 16 Jahre, die seit drei Monaten im entsprechenden niedersächsischen Wahlkreis ihren Wohnsitz haben.
Vorab: Was ist in den letzten 5 Jahren passiert?
Glaubt man der Landtagsdokumentation – nicht viel. Abgesehen von einzelnen kleinen Anfragen, überwiegend von Bündnis 90/Die Grünen, und einer großen Anfrage zur Dritten Option (ebenfalls von Bündnis 90/Die Grünen), war auf Seiten der Opposition in der letzten Legislatur nur die FDP mit einem Antrag präsent. Gestellt im Jahr 2018 zielte er darauf, die Rechte von Trans* zu stärken präsent.
Die Regierungspartei SPD brachte einen Antrag für das Recht auf Unversehrtheit intergeschlechtlicher Menschen ein. Aktivitäten, wie die 2014 beschlossene landesweite Kampagne „Für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“, liefen in dieser Legislatur ohne Änderungen weiter.
Die aktuellen Wahlprogramme
Um zu erfassen, was sich nach den Wahlen ändern könnte, hilft ein Blick in die Wahlprogramme. Beginnen wir mit den bisherigen Regierungsparteien.
Die SPD, deren inhaltlicher Schwerpunkt im Programm auf „Zusammenhalt“ und „Transformation“ liegt, äußert sich, wie bereits im letzten Wahlprogramm (vgl. RoZ 4/2017), nur sehr dürftig mit Forderungen zur Verbesserung queerer Lebensverhältnisse. Unter dem Kapitel „Das soziale Netz stärken“ findet sich ein dürrer Absatz zu Queerpolitik am Kapitelende. Demnach will die SPD den Artikel 3 Satz 3 der Niedersächsischen Verfassung um das Merkmal der „sexuellen und geschlechtlichen Identität“ ergänzen. Zudem wendet sie sich gegen Hass und will einen Landesaktionsplan gegen Homo-, Trans- und Queerfeindlichkeit initiieren – etwas was zahlreiche Bundesländer inzwischen bereits erfolgreich getan haben. Allerdings führt das Wahlprogramm der SPD nicht aus, in welchem Verhältnis dieser Maßnahmenplan zur bereits vorhandenen Kampagne „Für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ stehen soll. Darüber hinaus fordert die SPD die stärkere Unterstützung ehrenamtlicher queerer Vereine.
Ein weiterer queerer Bezug findet sich im Kapitel „Bildung“. Es gelte „…queere Realitäten in der Bildung aktiv zu verankern und Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrkräfte systematisch für queere Themen zu sensibilisieren sowie proaktiv weiter- und fortzubilden. Wir setzen uns mit gezielten Maßnahmen für ein breiteres Verständnis in der Gesellschaft für queere Themen ein.“.
Die CDU definiert als einzige der Parteien, was sie konkret unter Familie versteht. Dabei bleibt sie bei der Position aus ihrem alten Wahlprogramm: „Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen und übernehmen.“ Zahlreiche Verantwortungsgemeinschaften, in denen Menschen füreinander einstehen, sieht die CDU damit weiterhin nicht als Familien – und damit nicht in gleichem Maß als schützenswert. Immerhin erkennt die CDU inzwischen die gesellschaftliche Realität an: „In unserer diversen Gesellschaft ist die Aufmerksamkeit für die Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen sowie Trans- und Intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) richtigerweise stark gewachsen. Weil sie in ihrem Alltag noch immer mit Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen konfrontiert sind, wollen wir Rahmenbedingungen schaffen, in denen die LSBTIQ-Gemeinschaft sicher und diskriminierungsfrei leben kann.“
Unter diesem Opferaspekt soll soll Polizei und Staatsanwaltschaft sensibilisiert werden und Ansprechpartner*innen bei der Polizei und im Landespräventionsrat gestärkt werden. Immerhin wollen die Christdemokrat*innen auch im ländlichen Raum ein LSBTI-freundlicheres Umfeld schaffen und dabei gezielt LSBTI-Gruppen in vorhandene Strukturen wie Jugendzentren und Beratungsstellen einbinden. Auf diese Weise sollen Vorbehalte abgebaut werden. Damit hat die CDU im Vergleich zur letzten Wahl einen gewaltigen Sprung Richtung Realität gemacht.
Zur bisherigen Opposition:
Wie bereits zur letzten Wahl fordert die FDP, analog zur SPD, eine Änderung der niedersächsischen Verfassung und des bundesdeutschen Grundgesetzes. „Sexuelle und geschlechtliche Identität“ sollten dort direkt benannt werden, um Diskriminierungen abzubauen. Zudem fordert die FDP eine Verbesserung schulischer Bildung: „Sexuelle Selbstbestimmung: Junge Menschen sollen zur selbstbestimmten Wahrnehmung der eigenen und zur Achtung fremder sexueller Autonomie zu befähigt werden. Daher sollen bereits an den niedersächsischen Schulen verstärkt Fragen der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität, der sexuellen Selbstbestimmung, zum Konsens bei sexuellen Handlungen und zur Prävention von Missbrauch thematisiert werden.“
Interessant und bedenkenswert ist die Forderung nach geschlechtsneutraler Gesetzesfassung. Die Forderung verbindet sie mit der Definition eines „liberalen Feminismus“, den sie vertreten wolle: „Der liberale Feminismus strebt die Selbstbestimmung aller Individuen frei von gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen aufgrund ihres gewählten oder biologischen Geschlechts an. Er ist daher männlich, weiblich und divers.“
Das Programm der oft als besonders queerfreundlich gelabelten Partei Bündnis 90/Die Grünen kann an dieser Stelle leider nicht analysiert werden, da die Landespartei es nicht vermochte, dass auf dem Landesparteitag am 15. Juni 2022 beschlossene Wahlprogramm bis zum 8. August zur Verfügung zu stellen. Auch eine Nachfrage per E-Mail führte nicht zum Ziel, einen Blick ins Wahlprogramm erhaschen zu dürfen. Das ist unschön, gerade weil Parteien nicht selten Wahlprogramme von 100 Seiten und mehr produzieren – interessierte Wähler*innen sollte dann auch etwas Zeit gegeben werden, die parteipolitischen Positionen vergleichen zu können. Außer der AfD, deren Wahlprogramm bis Redaktionsschluss ebenfalls nicht verfügbar war und die überdies kontinuierlich für ihre homo-, trans*- und queerfeindlichen Positionen bekannt ist, haben die übrigen Parteien frühzeitig ihre Positionen offengelegt.
Die zwar nicht im Landtag, jedoch im Bundestag vertretene Partei Die Linke setzt sich besonders für Akzeptanz und Anerkennung vielfältiger Lebensweisen, geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen ein: „Obwohl Niedersachsen ein tolerantes und weltoffenes Land sein will, sind Ausgrenzung, Diskriminierungen, Beleidigungen und auch Gewalt immer noch bittere Realität für Schwule, Lesben, Transgender und Intersexuelle. FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Non-Binary, Trans und Agender) sollen nicht wegen ihrer geschlechtlichen, LGBTIQA* (Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual und Asexual) nicht aufgrund ihrer sexuellen Identität benachteiligt werden. Noch viel zu viele Menschen können in der Öffentlichkeit, in Schulen oder bei der Arbeit ihre Identität nicht frei und offen zeigen, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Dauerhafter Einsatz für Akzeptanz, Vielfalt und Gleichberechtigung muss für die niedersächsische Landespolitik eine höhere Priorität haben; das gilt vor allem im Schulbereich.“ Auch Die Linke fordert, das Diskriminierungsverbot in die Landesverfassung aufzunehmen und eine die Vielfalt der Geschlechter widerspiegelnde Sprache in der öffentlichen Verwaltung. Zudem sollen flächendeckend queere Zentren und Begegnungsorte etabliert werden.
Einschätzung
Auffällig ist, dass sich außer der CDU keine der Parteien an eine Definition wagt, was für sie Familie bedeutet, obwohl in allen Programmen zahlreiche Forderungen für Arbeit und Leben auf „Familien“ zielen. Ansonsten bleiben die Programme in Bezug auf queere Themen ausnehmend knapp und vage. Die Rechte und Forderungen queerer Menschen haben scheinbar keine hohe Priorität oder werden als nicht wahlrelevant angesehen. So taucht der Schutz queere Geflüchteter ebenso wenig auf, wie Forderungen, die sich an die föderale Struktur der Bundesrepublik wenden, wie die Abschaffung des Transsexuellengesetzes oder der bessere Schutz Intergeschlechtlicher. Auch wird in Bezug auf Institutionen nicht ausgeführt, was die Änderung des Sozialgesetzbuches VIII bedeutet. Es ist für KiTa sowie Kinder- und Jugendhilfe bedeutsam und schreibt mittlerweile die Förderung geschlechtlicher Selbstbestimmung auch hinsichtlich transidenter, intergeschlechtlicher und non-binärer Geschlechtlichkeit vor. Hier könnten praxisnah Maßnahmen formuliert werden. Zu erwarten ist, egal in welcher Konstellation Regierung und Opposition zusammengesetzt sein werden, dass queere Belange weiterhin erst ganz weit hinten auf der Agenda stehen. Es wäre mehr möglich und nötig.