Am 15.10. finden in Niedersachen vorgezogene Neuwahlen statt. Ausgelöst wurden sie durch einen Wechsel einer ehemals grünen Abgeordneten zur CDU. Wie bereits zu den letzten Wahlen(2008, 2013), ist dies eine Gelegenheit zu schauen, was in der letzten Legislatur passiert ist und welche Forderungen die Parteien zur Landtagswahl stellen. Das Land Niedersachsen wird seit 2013 von einer knappen rot/grünen Mehrheit regiert. In der Opposition waren CDU und FDP. Die Partei Die Linke musste nach 4 Jahren ihre Plätze räumen und war in der letzten Legislatur nicht im Landtag vertreten.
Beginnen wir mit einem Blick zurück: Was wollten die Parteien umsetzen? B90/Die Grünen und SPD hatten in Ihren Wahlprogrammen einiges versprochen (Vgl. RoZ 143 – „5 more years“) und konnten das mit Ihrer Regierungsmehrheit im Wesentlichen – und vor allem gegen die Stimmen der CDU – umsetzen.
So wurden Bundesratsinitiativen, die eher Symbolcharakter haben, auf den Weg gebracht, die aber, wie wir wissen, dieses Mal nicht im Bundestag versackt sind, sondern letztlich auch den Boden bereitet haben, dass in zwei Punkten Änderungen im Bundestag auf den Weg gekommen sind. Per Beschluss setzte sich die Landesregierung für die Rehabilitierung der nach §175 in der BRD, in Westberlin (und in der DDR) Verurteilten und für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ein. Ein weiteres Thema waren Verbesserungen im Transplantationsgesetz und zur Blutspende – dort sollte der Ausschluss von Schwulen bzw. von Männern, die Sex mit Männern haben, aufgehoben werden.
Inhaltlich wurde 2014 gegen den massiven Widerstand der Landtags-CDU ein Programm zur schulischen Bildung verabschiedet, das explizit die Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten zum Lehrinhalt hat. Entwürfe von FDP, SPD und Grünen zur Aufnahme der sexuellen Identität in Artikel 3 der niedersächsischen Landesverfassung (Benachteiligungsverbote) versandeten 2015 jedoch in Ausschüssen und wurden seitdem nicht wieder thematisiert.
Seit Juli 2014 führt das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung gemeinsam mit Kooperierenden aus der LSBTI*- Community eine landesweite Kampagne für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt durch („Gemeinsam für Vielfalt* in Niedersachsen“). Mit Haushaltsmitteln des Landes sollen Maßnahmen und Projekte initiiert werden, damit sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Niedersachsen auch in der Fläche sichtbarer und in allen Lebensbereichen selbstverständlich akzeptiert wird, so die Selbstdarstellung. Ziele sind, so das Sozialministerium, der Abbau von Ängsten und Vorurteilen in der gesamten Bevölkerung, der Abbau von Diskriminierung gegenüber geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten sowie die Steigerung von Akzeptanz und Wertschätzung für Vielfalt.
Die Wahlprogramme zur nächsten Legislatur überraschen vor allem durch ihre Leere.
Die CDU setzt vor allem auf innere Sicherheit. Das heißt, sie tritt für mehr Polizei und mehr Überwachung ein. Es gibt zwar eine ganze Seite, die sich mit der DDR(!) und der Bedeutung des Gedenkens an das „SED-Unrecht“ beschäftigt (es handelt sich tatsächlich um das Wahlprogramm der CDU Niedersachsen!), allerdings verliert das Wahlprogramm kein Wort über Rechte von LGBTIQ*. Da ist es schon positiv, dass sie keinen Rückbau der Beschlüsse der rot/grünen Landesregierung zur schulischen Bildung fordert.
Das Ihnen zum Familienbegriff nichts Neues einfällt, ist dabei nicht weiter verwunderlich: „Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen“ Spannend, sich zu überlegen, was nach dem Modell der CDU Niedersachsen, alles keine Familien sind. Interessant ist zunächst, dass der Familienbegriff im Wahlprogramm der CDU nicht mehr am Ehebegriff festgemacht wird, wie es lange konservatives Selbstverständnis war. Überraschend ist bei der CDU, dass an einer der wneigen Stellen, wo LGBTIQ* als Thema aufscheint, betont wird, dass sich auch sexuelle Minderheiten an das Grundgesetz halten müssen. Damit wird die Assoziation geweckt, dass sie das in der Regel eher nicht täten. Konkret heißt es: „Wer in Niedersachsen lebt, muss sich am Grundgesetz ausrichten – egal ob mit oder ohne Einwanderungsgeschichte, egal welcher Religionszugehörigkeit oder welchen Alters, Geschlechts oder sexueller Orientierung. Dazu gehört, die Rechte von Andersgläubigen und Nichtgläubigen genauso zu respektieren, wie man dies für sich selbst beansprucht.“ Im Folgenden werden dann nichtchristliche Religionsgemeinschaften, ohne sie direkt zu benennen, in Frage gestellt und den christlichen Kirchen ein Persilschein ausgestellt, sich stets an das Grundgesetz zu halten und eine wesentliche Grundfeste im Land Niedersachsen zu sein. Etwas „schöner“ bei der CDU formuliert, würde die an Minderheiten gerichtete Forderung, sich an das Grundgesetz zu halten, mit der sich eine deutliche diskriminierende Absicht verbindet, gut in das Programm der AfD passen.
Leider ist die regierende SPD in Bezug auf Forderungen zu LGBTIQ* auch nicht viel besser – es findet sich kaum etwas. Der Schwerpunkt des ausufernden Programmes liegt auf den Themenfeldern Arbeit und Bildung. Forderungen zur Verbesserung der Situation von LGBTIQ* sucht man komplett vergebens. Am nächsten an das Themenfeld kommen Forderungen nach einer Verstärkung der Genderforschung, die die SPD aber, der Struktur ihres Programmes nach, auf klassische feministische Ansätze beschränkt sieht. Das zeigt sich im Übrigen auch am Familienbegriff. Waren für die CDU Familien dort, wo Eltern und Kinder sind, ist bei der SPD – wenig besser – das Zusammenleben mehrere Generationen Voraussetzung: „Familie ist für die SPD der Ort, an dem Menschen verschiedener Generationen füreinander Sorge tragen – egal ob alleinerziehend, verheiratet, in Partnerschaft oder zusammenlebend. Die SPD richtet ihren Blick dabei auf Familien mit Kindern – vergisst aber auch Familien nicht, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen.“
Die FDP erhebt in ihrem massiv auf die Unterstützung nichtstaatlicher Träger ausgerichteten Programm – seien es Schulen, Hochschulen oder Wirtschaft –, die Forderung nach der Anpassung der Verfassung um ein Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung. Diesen Klassiker mit praktisch ausschließlich symbolischer Wirkung fordern auch B90/Die Grünen und die Linkspartei.
Im Vergleich mit den bereits beschriebenen Parteien haben die Liberalen einen weitreichenden Familienbegriff gewählt: „So verstehen wir unter dem Begriff der Familie nicht nur die Lebensgemeinschaft von leiblichen Ehepaaren mit ihren Kindern, sondern auch Alleinerziehende, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Paare mit oder ohne Kinder und auch Menschen, die ohne verwandtschaftliche oder geschlechtliche Beziehung zueinander eine dauerhafte Gemeinschaft bilden. All die aufgezählten Formen sind für uns Verantwortungsgemeinschaften aus freier Entscheidung, die wir fördern wollen.“ Aus diesem Begriff leiten sie das Konstrukt einer „eingetragenen Verantwortungsgemeinschaft“ ab, mit bestimmten Rechten und Pflichten unterhalb der bürgerlichen Ehe. Dieser gute Vorschlag, orientiert am ehemaligen Wahlverwandtschaftsmodell der Partei Die Linke (bzw. der vormaligen PDS), entspricht im Wesentlichen den Konzepten der Bundes-FDP und dürfte für die Landespolitik bedeutungslos sein. Praktisch auf Niedersachen bezogen werden Akzeptanzförderungsprogramme verlangt, um Diskriminierungen präventiv abzubauen.
B90/Die Grünen widmen unter der Überschrift „queeres Niedersachsen“ LGBTIQ* ein ganzes Kapitel. Explizit wenden sie sich gegen Diskriminierungen und machen sich vor allem für Verbesserungen bei Beratungsangeboten, insbesondere im ländlichen Raum stark. Schwerpunkte sind dabei Jugendarbeit, schulische Bildung, aber auch Verbesserungen in Landeseinrichtungen wie der Polizei stehen im Fokus.
Neu hinzugekommen ist die Zentrierung auf Pflege- und Gesundheitsberufe: „Gleichzeitig setzen wir uns im Bereich der Pflege- und Gesundheitsberufe für eine höhere Sensibilität im Umgang mit LSBTI* ein. Gerade in Seniorenzentren müssen hier die Bedürfnisse der LSBTI* stärker in den Blick genommen werden. Aber auch für eine Berücksichtigung gleicher Rechte von LSBTI* in Seniorenbeiräten setzen wir GRÜNEN uns ein.“
Explizit fordert B90/Grüne angemessene Hilfe und Schutz für queere Geflüchtete. Sehr weich werden B90/Die Grünen allerdings bei den Rechten Intersexueller Menschen. Zwar plädieren sie für eine Enttabuisierung, es fehlen aber klare Forderungen nach Auflösung binärer Geschlechtlichkeit im Personenstandsrecht und dem Verbot nicht medizinisch notwendiger geschlechtszuweisender Operationen an Kindern: „Wir wollen das Thema Intersexualität in der Gesellschaft enttabuisieren, um der Marginalisierung von intersexuellen Menschen entgegen zu wirken. Wir brauchen eine bessere Aufklärung, um Betroffenen und Angehörigen die Verunsicherung zu nehmen und um Diskriminierung und Mobbing entgegenzuwirken. Dabei sollte auch geprüft werden, ob zwangsläufig eine Angabe des Geschlechts in den Personalstandsangaben erforderlich ist. Die Diskriminierung intersexueller Menschen beginnt häufig bereits kurz nach der Geburt. Wir wollen das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung stärken. Deshalb sehen wir „geschlechtsangleichende“ Operationen im Kindesalter kritisch.“ Sie fordern hier also nicht das Verbot der geschlechtzuweisenden und -vereindeutigenden Eingriffe gegen intergeschlechtliche Minderjährige. Zumindest thematisieren sie aber deutlich – und anders als die anderen Parteien – die Situation Intergeschlechtlicher.
Die derzeit nicht im Parlament vertretene Partei Die Linke fordert, wie in einem Warenhaus, alles ohne es in ein Gesamtkonzept einzubinden. Das führt dann zu so undurchdachten und widersinnigen Forderungen, wie den CSD (also die Protestform, die sich in erster Linie gegen staatliche Willkür richtete) zum gesetzlichen Feiertag zu machen (wie auch den 8.Mai an anderer Stelle im Programm, was deutlich sinniger wäre). In ihrem Programm vergessen sie dabei dann sogar die aktuelle Realität: „Unsere Vision ist eine Gesellschaft, in der der Anspruch unseres Grundgesetzes verwirklicht ist, dass alle Menschen unabhängig von dem Geschlecht und der sexuellen Orientierung als gleichwertige Mitglieder dieser Gesellschaft behandelt werden.“ Es ist nur so, dass die sexuelle Orientierung nicht unter das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes fällt; der Verweis auf die EU-Richtlinien gegen Diskriminierung und Forderung nach einer Stärkung des „Antidiskriminierungsgesetzes“ (z.B. durch eine „Beweislastumkehr“) sowie Landesprogramme für Akzeptanzförderung in Bezug auf Vielfalt wären stimmigere Forderungen. Aber in diese Richtung gibt es immerhin einige beachtenswerte Punkte:
So wirbt Die Linke für eine bessere Integration von LGBTIQ*-Themen in den Schul- und insgesamt den Bildungsbereich: „Alternative Lebensentwürfe und das Selbstverständnis, dass es mehr als zwei starre Geschlechter gibt, gehören in Lehrpläne, Schulbücher und hochschulische Curricula.“ Ein Forschungsbereich „Queer Studies“ an einer niedersächsischen Hochschule, Bundesratsinitiativen für eine Modernisierung des Personenstandsgesetzes mit mehr als zwei Möglichkeiten der Geschlechtsangabe, Aufklärungsprogramme und Beratungsangebote, sowie die Förderung der Interessensverbände der LBGTIQ*-Communities sind die weiteren zentralen Forderungen.
Gesamtschau: Die Grünen setzen in ihren Forderungen vor allem auf Bildung und Beratung sowie den Abbau von Vorurteilen. Dass sie beim Thema Intersexualität so lavieren, erscheint merkwürdig, fällt es doch deutlich hinter die bisherige Linie der Bundespartei zurück. Die Linken übernehmen im Wesentlichen die Positionen der Bundespartei und bilden gemeinsam mit den Grünen den tragenden Pfeiler für queere Politik ohne dies inhaltlich produktiv zu untermauern, während die FDP dadurch glänzt, keine konkreten messbaren Forderungen auf Landesebene aufzustellen. Damit kann sie sich ein liberales Image geben, ohne später in Gefahr zu kommen, daran gemessen zu werden. Ein kompletter Reinfall sind die beiden großen Parteien. Egal welche Koalition nach der Wahl zu erwarten ist, es wird (sofern sich keine „große Koalition“ ergibt) dem kleinen Partner überlassen sein, notwendige Verbesserungen in Niedersachsen zu entwickeln und voranzutreiben. Wie wir aber von der FDP wissen, opfert sie gerade Forderungen in den Bereichen Vielfalt und Abbau von Diskriminierung, um stattdessen auf anderen Themengebieten mehr von ihrer Sicht durchzusetzen.
PS: Von der ebenfalls in den Landtag strebenden AfD gibt es kein Wahlprogramm, sondern nur ein allgemeines und vor Hass auf „das Andere“ triefendes Landesprogramm. Sich damit an dieser Stelle auseinanderzusetzen, lohnt nicht.