Debattenbeitrag im Anschluss an arranca Nr. 41 und red & queer Nr. 16 zu aktuellen deutschsprachigen Arbeiten „queerer Ökonomiekritik“; verfasst von Heinz-Jürgen Voß. — Hier findet sich der Text als pdf-Datei.
Eine Situationsbeschreibung
In der Ausgabe der lesbisch-schwulen Zeitschrift Siegessäule Juli/2008 wurde unter dem Titel „Queer gewinnt“ ein abschließendes plastisches Bild davon gezeichnet, wie „Queer“ nicht nur in Subkulturen verstanden, sondern wie es aktuell auch in der deutschsprachigen Rezeption der „Queer theory“ verhandelt wird. „Berlin ist total queer. Wir feiern das, wir sind mal so frei. Doch leider gibt’s immer noch genug Leute, die uns das vermasseln wollen“ – heißt es dort, womit punktgenau die Problemfelder benannt sind, die eine unbedingte Kritik an Queer und derzeit prominent verhandelten deutschsprachigen Arbeiten zu „Queerer Ökonomiekritik“ notwendig machen.
Queer muss an dieser Stelle nicht grundsätzlich erläutert werden; es sei nur zu den bislang verbreiteten Definitionen seines perversen, verstörenden, zu Normierungen und kollektiven Identitäten kritischen Charakters hinzugefügt, dass Queer einen Ursprung in radikalen politischen Bewegungen hat. Queer wurde nicht in abgeschlossenen Elfenbeintürmen als abstraktes Gedankengebäude erdacht, wie es derzeit mit den ausschließenden Verhandlungen an Universitäten und auf Konferenzen den Anschein macht, schon gar nicht wurde es von Männern und Frauen einer weißen bürgerlichen Mittelklasse entwickelt. Irgendwann war es nur sexy und einladend genug auch für diese – und im deutschsprachigen Raum kommt noch diese anziehende sprachliche Unverständlichkeit hinzu, die weniger Abwehr erwarten lässt, als wenn man sich als „Schwuchtel“ oder „Tunte“ bezeichnete.
Queer entwickelte sich aus einer Kritik gerade an diskriminierenden Ausschlüssen, die auch und gerade in lesbischen und schwulen Communities herrschten (und herrschen). Im Zusammenhang mit der Aids-Hysterie versammelten sich Menschen, die in den lesbischen und schwulen Communities wie in der „Normalgesellschaft“ mit Diskriminierungen auf Grund ihrer Hautfarbe, Aids-Erkrankung, körperlichen Behinderung, Trans*-Identität oder von dominanten Weiblichkeits- oder Männlichkeitsentwürfen abweichenden Identitäten konfrontiert waren. Es ging nun in den 1980er Jahren also nicht mehr um „die Lesben“ oder „die Schwulen“, die nun diskriminierungsfrei leben wollten (Stonewall war 1969!), sondern diese gehörten vielmehr auch mit zu denjenigen, die den diskriminierenden Alltag „der Anderen“ konstituierten.
Nun ist „Berlin […] total queer“, haben sich selbst (Partei-)Organisationen, die sich bestenfalls um Lesben- und Schwulenrechte (meist sogar nur um Schwulenrechte) mühen, den Namen „Queer“ gegeben und hofft die Berliner „Initiative Queer Nations“ durch eigene positive Bezüge auf die deutsche Nation darauf, dass der deutsche Bundespräsident sie als bedeutsam anerkennt und ihnen einen Brief schreibt. Augenscheinlich wird, dass Queer in diesen Ausformungen mittlerweile ein Teil des Problems ist. Stellte sich bei dem Siegessäule-Artikel eigentlich die Frage, wie eine Stadt „queer“ sein kann und es nicht die dort lebenden Menschen in ihrem täglichen Umgehen sein müssten, so wird diese Frage sekundär. „Queer“ kann offenbar in eine hegemoniale Normalität integriert werden – das gilt auch für die deutschsprachige Queer theory. Damit verbunden sind Ausschlüsse:
Abgegrenzt wird Queer 1) ökonomisch. Innerhalb einer wissenschaftlichen Community kann man beobachten, dass sich die Definitionsmacht über Queer mehr und mehr von marginalisierten und subordinierten Aktivist_innen hin zu einer weißen bürgerlichen Mittelklasse verlagert hat, die selbst blind für die tatsächlichen Lebensrealitäten von Menschen anderer Sozialisation zu sein scheint. So kommt es nicht von ungefähr, dass die nun viel kritisierten Beiträge von Kathrin Ganz & Do. Gerbig (Diverser leben, arbeiten und Widerstand leisten: queerende Perspektiven auf ökonomische Praxen und Transformation in arranca 41) und von Antke Engel (Bilder von Sexualität und Ökonomie: Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, erschienen im transcript Verlag) ganz ohne Verweise auf die prekären und entrechteten Lebensbedingungen von Flüchtlingen, die zunehmenden rassistischen Diskriminierungen in der Europäischen Union und Fragen nach der Einkommenssituation von Menschen auskommen, geschweige denn, dass Kapitalismus als konstituierend für weltweite ökonomische Ausbeutungen wahrgenommen werden würde. Mit einer anderen – einer emanzipatorischen und gerechten, einer sozialistischen – Wirtschaftsordnung könnten hier, jetzt, sofort alle Menschen mit ausreichend Nahrungsmitteln und den notwendigen Medikamenten versorgt werden – aktuell werden sie vielen Menschen aus Gewinninteresse vorenthalten und dadurch der Tod von täglich mehreren tausend unterernährter und kranker Menschen verschuldet.
Zum 2) wird Queer rassistisch abgegrenzt. So wird aktuell in der Bundesrepublik Deutschland ein Bild des „homophoben und transphoben Migranten“ gezeichnet, der die Freiheiten und Rechte gerade von Lesben, Schwulen, Trans*-Menschen und Frauen bedrohen würde. Hingegen sei eine „Mehrheitsdeutsche Gemeinschaft“, die selten genauer spezifiziert wird, tolerant und akzeptierend allen Menschen gegenüber, außer gegenüber den „Intoleranten“. Und die „Intoleranten“ sind dann auch rasch ausgemacht: Es seien eben jene „Migranten“ – stets werden sie männlich, heterosexuell gedacht –, die vornehmlich einen muslimischen Hintergrund hätten, woraus sich „archaische Männlichkeitsvorstellungen“ ableiteten, die wiederum Diskriminierungen und Gewalt bedingten. Brutale homophobe und rassistische Übergriffe durch Rechtsextremisten (und Rechtsextremistinnen) erschüttern dieses Bild nicht, genauso wenig wie es die Kriminalitätsstatistiken tun, aus denen sich das Bild des „homophoben und transphoben Migranten“ nicht belegen lässt. Gleichzeitig ist es so für die sich als mehrheitsdeutsch Konstituierenden möglich, sich von einem klaren Negativbild abzugrenzen (vgl. hierzu gut den Artikel von Jin Haritaworn Kiss-ins und Dragqueens: Sexuelle Spektakel von Kiez und Nation in dem Sammelband Verqueerte Verhältnisse). Damit werden die zurückgestellte Situation von Frauen in der bundesdeutschen Gesellschaft und ihr nahezu vollständiger Ausschluss aus lukrativen und prestigeträchtigen Positionen, „erweiterte Selbstmorde“ von Familienvätern (die selbstverständlich nicht als „Ehrenmorde“ gefasst und problematisiert werden) sowie Homophobie, Transphobie und Rassismus nicht als Probleme der bundesdeutschen Gesellschaft wahrgenommen und ihnen begegnet. Neben solchen innenpolitisch relevanten Folgen, ergeben sich zunehmend auch außenpolitische, die am deutlichsten durch die Rechtfertigung der Kriege gegen den Irak und Afghanistan gerade über Frauenrechte und die Rechte von Homosexuellen sichtbar werden (das dann gerade westliche Soldaten – auf Grund ihrer Homophobie – nicht mit der Nähe und dem Flirten unter afghanischen Männern umgehen können, stört nicht das hergestellte Feindbild; vgl. Georg Klaudas Buch Die Vertreibung aus dem Serail: Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt). Der frühere Bundespräsident Horst Köhler und der jetzige Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg haben zuletzt herausgestellt, dass es der Bundesrepublik Deutschland mit militärischen Auslandseinsätzen auch um die Wahrung und Durchsetzung ökonomischer Interessen gehen müsse.
„Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus“
Nicht wenige Vertreter_innen der deutschsprachigen Queer theory – zentral waren in den vergangenen Diskussionen die oben benannten Beiträge von Ganz & Gerbig sowie Engel – bleiben bezüglich der aufgeworfenen Problempunkte ganz seltsam schwammig. Anstatt klare politische Ansätze zu formulieren und Queer theory als Konzept so zu entwickeln, dass eben keine ökonomischen und rassistischen Ausschlüsse vorgenommen werden können, verlegen sie sich ausschließlich auf die Beschreibung ihrer näheren Umwelt aus ihrer eigenen Perspektive. Anstatt zumindest den Versuch zu unternehmen, sich mit den Positionen von marginalisierten Menschen zu solidarisieren – wie es Karl Marx und Simone de Beauvoir wichtig war und wie es unlängst Donna Haraway vorschlug – sehen sie sich durch die Wahrnehmung, dass „alles gesellschaftlich konstruiert sei“ und ihre eigene Position „ohnehin subjektiv sei“, darin bestätigt, sich gar nicht erst für die jeweiligen ganz realen Problemlagen und Sichtweisen anderer Menschen interessieren zu müssen. Resultat sind Ansätze, die nur noch an die Lebensentwürfe einer weißen bürgerlichen Mittelklasse anschlussfähig sind, wie es Salih Alexander Wolter punktgenau für den Beitrag von Ganz & Gerbig kritisiert hatte (Queerfeministische Ökonomiekritik? Eine Randnotiz zum Ende des Kapitalismus in Red & Queer 16, S.10f).
Selbstverständlich ist klar, dass auch wenn ein „Arbeiter“ (oder eine Arbeiter_in) in der „Freizeit“ Gemüse anbaut oder eine andere Tätigkeit vollzieht, auch diese Beschäftigungen nicht außerhalb des Kapitalismus stehen. Schon „Freizeit“ ist über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse konstituiert; auch stehen diese „Freizeit-Aktivitäten“ nicht außerhalb staatlicher und globaler Ordnung, die wiederum eng in Zusammenhang mit kapitalistischer Ausbeutung (u.a. der kolonialistischen Tradition Europas) zu sehen sind. „Hackerspaces“ – von Ganz & Gerbig als freie Räume im Sinne „Queerer kultureller Politiken“ dargestellt – sind grundlegend patriarchalisch und kapitalistisch strukturiert. Computer und der Zugang zu diesen ist Voraussetzung – entsprechend müssen die ökonomischen Grundbedingungen vorhanden sein –, es muss genug Zeit für solche in der Regel erwerbs- und sorgeunabhängigen Tätigkeiten sein, zudem fällt ein Computer nicht vom Himmel: Das Schürfen von Erzen unter oft unmenschlichen und entrechteten Bedingungen, Transport, Zusammenbau und keineswegs zuletzt die androzentrischen, kolonialistischen, rassistischen Entstehungsbedingungen von Wissen sind grundlegende Bedingungen, die es zu reflektieren gilt, statt das Bild einer schönen heilen Welt mit „Hackerspaces“ für alle zu zeichnen. Und auch solche Beschreibungen wie die folgende greifen zu kurz und setzen unzulässig gleich: „Ein freches Dienstmädchen würde ‚bestraft‘, ein Professor, der beim Thema ‚Armut‘ in Tränen ausbricht, ebenfalls. Wenn es ihnen gelingt, ihre Rollen richtig zu verkörpern, läuft auch der Arbeitstag einigermaßen rund und sexuelle Arbeit war mal wieder doppelt produktiv“ (Ganz & Gerbig, S.21). Für ein Dienstmädchen ist diese Bestrafung möglicherweise existenzbedrohend, für den Professor ist sie es in aller Regel nicht – es gilt sich also auch bei „queeren“ Betrachtungen tatsächlich den realen Lebensbedingungen von Menschen zuzuwenden. Und gleichzeitig gilt es zu problematisieren, dass eben gerade das Dienstmädchen „weiblich“ benannt wird und in der Regel auch ist, der Professor hingegen „männlich“ und welche Stereotypen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ gezeichnet werden – queer-feministische Normativitätskritik und Kritik an herrschenden sexistischen Verhältnissen hat hier ihren selbstverständlichen Arbeitsauftrag.
Auch Antke Engel bleibt in ihrem Buch Bilder von Sexualität und Ökonomie: Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus auffallend unscharf. Engel schafft eigens einen neuen Begriff, mit dem sie kenntlich machen will, dass sich neoliberale Verhältnisse „durch eine positive, wertschätzende Haltung zur Differenz“ auszeichneten (S.42). Nicht nur bspw. schwule Kreise selbst würden sich zunehmend selbstbewusst zeigen, sondern Differenz würde gesamtgesellschaftlich als Stärke erkannt und gefördert werden. Abgesehen davon, dass die von Engel hinzugesetzte, in ihrer diesbezüglichen Argumentation zentrale, Abbildung (S.44) aus einem schwulen Magazin stammt und damit nicht geeignet ist, die Frage zu klären, ob die Entwicklung in Richtung einer gesamtgesellschaftlichen Wertschätzung gehe, blendet sie in ihrem Buch konsequent herrschende Ausschlussmechanismen aus. – Bei ihrer These stellt sich doch sofort die Frage, warum dann dominant u.a. durch Angela Merkel (geb. Kasner) und Ursula Gertrud von der Leyen (geb. Albrecht) rassistische Vorurteile in der Bevölkerung bedient werden, warum Gerhard Schröder und Joseph Fischer explizit die Freizügigkeit von Menschen aus den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union so weit wie möglich begrenzten und warum nicht längst schon alle Grenzen weltweit offen sind. Eine „positive, wertschätzende Haltung zur Differenz“ sähe anders aus. Gleichzeitig wird klar: Kapitalismus – auch Neoliberalismus! – basiert auf der Teilung der Menschen in Besitzende und Lohnabhängige; der Wohlstand der ersteren basiert auf der Ausbeutung der letzteren. Die geographische Ungleichheit der Lebensbedingungen von Menschen und auch diejenige im jeweiligen Land ermöglicht es den ersteren, ihren Reichtum zu vergrößern.
Ausschlüsse vollziehen sich so insbesondere durch Segregation von Menschen an Hand des Einkommens, rassistisch und sexistisch. Weit entfernt davon, diesen Zusammenhang in ihrem Buch kenntlich zu machen, verklärt Engel die Situation noch damit, dass sie eine größere geschlechtliche und sexuelle Offenheit der bundesdeutschen Gesellschaft beschreibt – und diese nicht in bundesdeutsche internationale Politik einbettet. So mag etwas Wahres dran sein, dass nun Homosexualität mit weniger rechtlicher Verfolgung begegnet wird (von Gleichstellung von Menschen gleich welcher sexuellen Orientierung kann indes keine Rede sein, wie schon aus der Eingetragenen Lebenspartnerschaft deutlich wird), gleichzeitig wird dies jedoch durch die Herrschenden im derzeitigen Diskurs konstituierend für (insbesondere antimuslimischen) Rassismus und die Begründung von Kriegen eingesetzt – und es wird von der innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht erreichten Gleichstellung von Frauen und Männern abgelenkt. Solche Zusammenhänge kann man nicht ausblenden, will man nicht (ungewollt) an derzeitigen patriarchalischen Benachteiligungen von Frauen, rassistischen Diskriminierungen und Kriegen mitstricken.
Queere Kapitalismuskritik
Aber warum dieses Ausweichen, dieses Betonen einer vermeintlich voraussetzungslosen Vielfalt der Lebensweisen von Menschen in derzeitigen Ausarbeitungen, deren Autor_innen ihre Schriften selbst als queer titulieren? Wenn eines im Sinne der Queer theory klar war, dann doch jenes, dass es darum gehen muss, gesellschaftliche Dominanz- und Subordinationsverhältnisse zu beenden (Achtung: Damit ist keineswegs SM-Sex gemeint!), also rassistische und sexistische Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse zu bekämpfen. Kollektive Identitäten sollten in Zweifel gezogen und individuelle Selbstbestimmung erreicht werden. Warum soll jemand, der einfach einen Menschen begehrt, sei er auch im heutigen Verständnis „gleichgeschlechtlich“, sich gleich mit einer der Identitäten „lesbisch“ oder „schwul“ rumplagen müssen, die westliche Gesellschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erdacht haben und nach denen „Lesben“ und „Schwule“ eine Lebensgeschichte und „Gene“ hätten, die ihre sexuelle Orientierung konstituierten, sie bestimmte Lokale aufsuchen müssten und stets einen typischen Gang und körperliche Zurichtung hätten?
Und bei dieser Reflektion wird bereits eine Verbindung von Queer theory mit Kapitalismuskritik augenscheinlich: Wo Karl Marx das Zukunftsbild einer kommunistischen Gesellschaft zeichnet, schreibt er deutlich und identitätskritisch: Die kommunistische Gesellschaft mache mir (uns) eben möglich, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Karl Marx in Die deutsche Ideologie, nach Boris Goldenberg Karl Marx – Ausgewählte Schriften, S.260). Also: Einfach Menschen begehren, mit Menschen nah umgehen, Sex haben, ohne gleich eine Identität annehmen zu müssen – das wäre doch eine Anschlussmöglichkeit für die Queer theory! Und insgesamt sind die Beschreibungen von Karl Marx zu Produktionsverhältnissen für Queer theory und ihre weitere Ausgestaltung äußerst erhellend. Sie machen klar, dass alles was uns Menschen ausmacht stets schon gesellschaftlich ist, dass all unsere Wahrnehmung stets schon gesellschaftlich ist, dass dabei kein Mensch etwa „passiv“ einer Gesellschaft gegenüberstehen würde, sondern jeder Mensch „aktiv“ an Gesellschaft mitstrickt (in diesem Sinne auch Michel Foucaults Ausführungen zu Technologien des Selbst und Judith Butlers zu performativer Herstellung) – und warum uns gerade im Kapitalismus die Wahrnehmung dieser Gesellschaftlichkeit so rasch entgleitet und wir Dinge, Wahrnehmungen, Identitäten oft als „natürlich“ erklären und sie damit unserer Beeinflussbarkeit zu entziehen trachten. (Vgl. detailliert in: Heinz-Jürgen Voß Geschlecht: Wider die Natürlichkeit [Reihe theorie.org].) Karl Marx hat an seine scharfen Analysen des kapitalistischen Wirtschaftssystems kurz angeschlossen und er zeigt an einigen Stellen den Zusammenhang prägnant auf: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz“ (Karl Marx Zur Kritik der Nationalökonomie – Drittes Manuskript, nach Boris Goldenberg Karl Marx – Ausgewählte Schriften, S.142). Dass das auch für Geschlecht gilt, haben Simone de Beauvoir und – gerade auch mit Kritik an Zweigeschlechtlichkeit – Judith Butler präzise erarbeitet. Hier gilt es anzuknüpfen und die Gesellschaftlichkeit und das Werden von Geschlecht (und selbstverständlich auch von Sexualität) herauszustellen. Es gilt Machtverhältnisse herauszuarbeiten; Diskriminierungen und Gewaltverhältnisse müssen klar in den Blick – und bekämpft werden. Letztlich sind die kapitalismuskritischen und geschlechtskritischen Analysen Marxistischer Theorien und von Queer theory dafür wichtig, damit wir Menschen feststellen, dass es für uns keine von einer Gesellschaftlichkeit abspaltbare Natürlichkeit gibt, sondern dass wir alles gestalten müssen und können. Auf Praxis, unser Gestalten, unsere Tätigkeit kommt es letztlich an!
Damit wird (noch einmal) eine weitere unbedingt notwendige Verbindung von Queer theory und Kapitalismuskritik deutlich – Praxis. Nur weil man reflektiert hat, dass es kein „Ewigweibliches“ und kein „Ewigmännliches“ gibt, heißt das nicht, dass es in dieser Gesellschaft, nicht aktuell Männer, Frauen und massive Diskriminierungen, Benachteiligungen und Gewalt gegen Frauen gäbe (Simone de Beauvoir stellte die Notwendigkeit beider Perspektiven sehr gut in der Einleitung von Le Deuxième Sexe [dt. Das andere Geschlecht] heraus). Die konkreten Lebensbedingungen von Menschen gilt es in den Blick zu nehmen, um Benachteiligungen und Gewaltverhältnisse wahrnehmen und bekämpfen zu können. Das bedeutet aber zunächst einmal auch, dass man versuchen muss, sich selbst und die eigene Sozialisation nicht zu wichtig zu nehmen, sondern sich gerade auf die Berichte und Erfahrungen anderer Menschen einzulassen. Die eigene Sozialisation ist eben die eigene, sie ist für die Berichte und Erfahrungen einiger Menschen anschlussfähiger als für diejenigen anderer Menschen. Der Zugang zu einem Computer ist keine Selbstverständlichkeit, der abendliche Partygang auch nicht. Es gilt wahrzunehmen, in welche bedrängte Situation aktuell arme Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gebracht werden, erreicht durch unzureichende finanzielle Mittel und gesellschaftliche Stigmatisierungen. Es gilt wahrzunehmen, welche Gefahren Flüchtlinge auf sich nehmen, um vor Krieg und Elend zu fliehen, und wie viele Menschen jämmerlich im Mittelmeer ersaufen, wie viele in „Auffanglagern“ in Nordafrika gefangen gehalten und gefoltert werden und wie entrechtet und schlecht die Bedingungen derjenigen sind, die es zumindest schaffen, einen Asylantrag innerhalb der Europäischen Union zu stellen – all dies wegen des vehementen Engagements für die Drittstaatenregelung mit besonderer Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland erreicht. Es gilt die massive staatlich verordnete und gebilligte Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Säuglingen und Kleinkindern mit „uneindeutigen Genitalien“ wahrzunehmen. Und es gilt sich mit den Betroffenen (Betroffen-Gemachten) und Marginalisierten zu solidarisieren, gemeinsam gegen die Gewalt und Benachteiligungen zu streiten, ohne sogleich wieder nur die eigenen Forderungen zentral zu setzen.
Es gibt viel zu tun, um Gewalt und Diskriminierungen zu beenden – auch für Queer theory. Nur Vielfalt von Lebensweisen zu beschwören, greift zu kurz. Dabei werden die benannten Benachteiligungen und Gewaltverhältnisse verkannt und es wird nicht einbezogen, wie Reallohnverluste und flexibilisierte Arbeitsverträge sowie vollständig entrechtete Arbeitsverhältnisse gerade die Lebensverhältnisse von Menschen konstituieren und wie Menschen genötigt werden, zwischen Orten und Arbeitsbereichen zu fluktuieren.
Queer – also das Beenden von Diskriminierungen, Benachteiligungen und Normierungen – heißt, sich für Selbstbestimmung von Menschen einzusetzen. Dabei sind klar die ökonomischen Bedingungen einzubeziehen, da die allermeisten Menschen ökonomisch derzeit nicht selbstbestimmt, sondern kapitalistisch entrechtet sind. Queer und Kapitalismuskritik sind also untrennbar miteinander verbunden, sofern man nicht kurzschlüssig und mutwillig ausblendet, das Menschen auch von etwas und irgendwo leben müssen. Deshalb ist es notwendig sich auch in der deutschsprachigen Queer theory nun wieder den tatsächlichen Lebensrealitäten von Menschen zuzuwenden, grundlegende Analysen der Lebensbedingungen anzustellen, mit dem Ziel wirkende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Normierungen offenzulegen und diesen zu begegnen.
Heinz-Jürgen Voß,
Hannover, Januar 2011
Dieser Beitrag wird gleichzeitig auf www.leipziger-kritiken.de und auf www.schwule-seite.de veröffentlicht.