Die letzten 4 Jahre waren aus LGBTIQ*-Sicht ein Desaster: Insbesondere die nicht stattgefundene, längst überfällige Reform bzw. Abschaffung des Transsexuellengesetzes (TSG) wiegt schwer. Aktionspläne gegen Homophobie? Fehlanzeige. Insbesondere die SPD mit ihrem ambitionierten Programm zur letzten Bundestagswahl muss sich fragen lassen, warum sie sich so wenig durchgesetzt hat. Gerade weil sie die thematisch wichtigen Ministerien – Familie und Justiz – innehat. Die zentrale Wahlkampfforderung der Sozialdemokrat*innen nach einem modernen Familienrecht verschwand ganz schnell in der Schublade. Vielleicht waren der SPD LGBTIQ* jenseits warmer Worte zum CSD oder im Wahlprogramm zur Bundestagswahl dann doch nicht wichtig genug? Als einzig bedeutsame positive Entwicklung lässt sich die Verbesserung der Rechte für Intergeschlechtliche verbuchen. Aber auch hier ist der mit der CDU gefundene Kompromiss löchrig und bleibt abzuwarten, ob die nun verbotenen geschlechtszuweisenden und -vereindeutigenden Eingriffe tatsächlich zurückgehen – oder ob Mediziner*innen die (die werbewirksam ausgeleuchteten) Schlupflöcher nutzen. Sämtliche Versuche der Oppositionsparteien für mehr Rechte zu werben, sei es die Initiative zur Änderung des Grundgesetzes, die Abschaffung des TSG oder die Verbesserung des Schutzes vor trans- und homofeindlicher Gewalt scheiterten an der Regierungskoalition aus CDU und SPD, unterstützt von der vom Verfassungsschutz beobachteten AfD.
Mit den Wahlen 2021 eröffnen sich erstmals seit langem neue parteipolitische Farbenspiele, auch ohne CDU – bisher unmögliche oder unwahrscheinliche Konstellationen demokratischer Parteien könnten möglich werden. Rot-Grün-Rot ist vielleicht möglich; Rot-Grün-Gelb vielleicht auch. Jede Stimme wird wichtig sein – auch deine! Daher habe ich mich wieder durch die Wahlprogramme gearbeitet, um die Ausführungen der Parteien zum Thema LGBTIQ*, das neben sozialer Gerechtigkeit, Friedenspolitik und Klimaschutz ein wichtiges Thema ist, genauer zu kennen. An den Erkenntnissen lasse ich euch gern teilhaben:
Schwerpunkt in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2017 waren auf progressiver Seite vor allen Forderungen nach der Sicherstellung und Akzeptanz neuer Familienmodelle sowie eine Reform des TSG. Die Konservativen beschränkten sich damals auf Ignoranz, die Rechtsextremisten auf Hetze. Daran hat sich auch heute – zur Bundestagswahl 2021 – nichts geändert.
Hatte sich die CDU im letzten Wahlprogramm zumindest noch in abgrenzender Form zu nicht-heterosexuellen Paarbeziehung als Lebensentwurf geäußert, verzichtet sie in ihrem aktuellen Programm, das immerhin 139 Seiten umfasst und sehr detailliert auf kleinste Themen und Fachgebiete eingeht, völlig auf die Benennung irgendwelcher Themen, die LGBTIQ*-Bezug haben könnten. Weder die Reform des Transsexuellengesetzes, noch Aktionspläne gegen Homophobie tauchen auf, selbst die Familiendefinition wird – anders als 2017 – weggelassen, sondern offenbar die Heteronorm als selbstverständlich angenommen. Das „christliche Menschenbild“ als Leitbild wird gegenüber „vorgefertigten Lebensentwürfen für jeden Einzelnen“ hervorgehoben. Dieses Desinteresse, das mit Ideen der AfD angereichert ist, sollte weiterhin ein Achtungszeichen sein. Die CDU ist weiterhin keine Wahl – denken wir an Horst Seehofer (CSU, im letzten Kabinett immerhin Minister) zurück, der sich in den 1980er Jahren für die Konzentrierung von Schwulen in Lagern einsetzte, um HIV und Aids einzudämmen…
SPD: Entgegen der tatsächlichen Arbeit der letzten 4 Jahre in der Regierung fordert die SPD in ihrem Wahlprogramm vieles:
Die rechtliche Absicherung vielfältiger Familienmodelle nach dem Vorbild des französischen PACS wird geplant. Eine Änderung des Personenstandsrechts und damit eine Reform des TSG fordern die Sozialdemokrat*innen ebenfalls: „Kein Gericht sollte künftig mehr über die Anpassung des Personenstandes entscheiden. Psychologische Gutachten zur Feststellung der Geschlechtsidentität werden wir abschaffen. Jeder Mensch sollte selbst über sein Leben bestimmen können. Wir wollen, dass trans-, inter- und nicht binäre Menschen im Recht gleichbehandelt werden, deshalb werden wir das Transsexuellengesetz reformieren.“
Gerade hatten Sie das im Bundestag noch abgelehnt. Ebenso fordert die SPD nun auch die Ergänzung des Grundgesetzes um ein Diskriminierungsverbot wegen der geschlechtlichen und sexuellen Identität. Auch eine solche Regelung verhinderte die SPD vor wenigen Wochen noch gemeinsam mit der Union.
Unter dem Stichwort Diskriminierung und Gewalt wird ein „nationaler Aktionsplan
gegen Homo-, Bi-, Trans- und Interphobie und Gewalt gegen LSBTIQ*“ und eine Ächtung queerfeindlicher Gewalt in Europa gefordert. Ebenso wie FDP, Bündnis 90/ Die Grünen und Linke wird die Abschaffung des Blutspendeverbots für Schwule bzw. „Männer, die Sex mit Männern haben“ gefordert.
Bündnis 90 / Die Grünen setzen einen ersten Schwerpunkt auf die Ergänzung des Artikels 3 Absatz 3 des Grundgesetzes und die Erstellung eines bundesweiten ressortübergreifenden Aktionsplans „Vielfaltleben!“, der für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt werben soll: „Dazu gehören auch Maßnahmen zur LSBTIQ*-inklusiven Gesellschaftspolitik sowie die institutionelle Förderung und Projektförderung der LSBTIQ*- Verbände, -Organisationen und -Stiftungen.“
Begleitet werden soll dieser Aktionsplan von einer Aufklärungskampagne für junge Menschen über die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten, um bezüglich Homo-, Bi-, Trans*- und Queerfeindlichkeit zu sensibilisieren.
Mit einem Selbstbestimmungsgesetz will die Partei dafür sorgen, dass das überholte Transsexuellengesetz endlich aufgehoben wird. „Eine Änderung des Geschlechtseintrags und des Namens auf Antrag der betroffenen Person werden wir ermöglichen, ohne dass dafür psychologische Zwangsgutachten notwendig sind. Das Offenbarungsverbot werden wir konkretisieren und vorsätzliche Verstöße dagegen sanktionieren. Wir schreiben fest, dass alle nicht notwendigen Operationen und Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern verboten werden und Lücken in den entsprechenden Gesetzen geschlossen werden. […] Den Anspruch auf [selbstbestimmte] medizinische körperangleichende Maßnahmen wollen wir gesetzlich verankern und dafür sorgen, dass die Kostenübernahme durch das Gesundheitssystem gewährleistet wird. Wir werden einen Entschädigungsfonds für die Opfer aus dem Kreis der trans*- und inter*geschlechtlichen Personen, deren körperliche Unversehrtheit verletzt wurde oder deren Ehen zwangsgeschieden wurden, einrichten.“
Weiter fordern Bündnis 90 / Die Grünen ein modernes Familienrecht und gehen dabei vor allem auf soziale Elternschaft ein. Hier fordern sie ein Rechtsinstitut der elterlichen Mitverantwortung, das bis zu zwei weiteren Erwachsene neben den leiblichen Eltern berücksichtigt.
Unabhängig davon wird, analog zum PACS in Frankreich, mit einem „Pakt für das Zusammenleben“ nach Wunsch von Bündnis 90 / Die Grünen eine neue Rechtsform geschaffen, die das Zusammenleben zweier Menschen (warum aber nur und genau zwei?), die füreinander Verantwortung übernehmen, unabhängig von der Ehe rechtlich absichern soll. Damit konkretisieren sie das im Wahlprogramm 2017 noch sehr vage formulierte Modell. Nicht mehr im Programm findet sich dagegen die 2017 noch deutlich formulierte Forderung nach der Abschaffung des Ehegattensplittings. Diese Forderung zielte darauf, die Privilegierung der Ehe gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens zurückzunehmen und Zwänge – die Gewalt begünstigen können – in Verbindungen zu verhindern.
Die Partei Die Linke hat das mit Abstand umfangreichste Programm für LGBTIQ* im Angebot – nicht nur quantitativ, sondern auch im Verhältnis zu anderen Programmpunkten. Sie verbindet ihre Forderungen auch mit Themen, die auf den ersten Blick nichts mit LGBTIQ* zu tun haben. Beispielsweise fordert sie das Recht auf einen legalen Zugang für Schwangerschaftsabbruch explizit auch für trans* und nicht-binäre Menschen! Gefordert wird die Gleichberechtigung aller Lebensweisen, in denen Verantwortung für andere übernommen wird. Dazu wird ein Wahlverwandtschaftsrecht eingefordert, in dem „nicht nur (heterosexuelle) Paare Verantwortung füreinander übernehmen dürfen, sondern jede Gemeinschaft, die sich einander verbunden fühlt. Das kann auch eine mehr als zwei Personen umfassende Beziehung sein (zum Beispiel eine Mehrelternfamilie mit zwei lesbischen Müttern und zwei schwulen Vätern). Diesen Menschen ist ein umfangreiches Besuchsrecht im Krankheitsfall, Adoptionsrecht und Aussageverweigerungsrecht einzuräumen. Gleichzeitig werden besondere Zuwendungen fällig, wenn ein Angehöriger (nach dem Wahlverwandtschaftsrecht) gepflegt werden muss oder sich Kinder in einer Wahlverwandtschaft befinden.“
Die Diskriminierung im Abstammungsrecht, die Transformierung des Ehegattensplittings in familien- und geschlechtergerechte Steuermodelle, die Anpassung der Lehrpläne an die real existierende Vielfalt von Lebensentwürfen sind weitere zentrale Forderung der Linkspartei. Explizit fordert Die Linke eine diskriminierungsfreie Sprache und den Schutz queerer Communities, beispielsweise durch einen Rettungsschirm gegen die Corona-Folgen. Im Rahmen von Fördermitteln sollen lesbische und schwule Communities gleichermaßen gefördert werden. Einen Schwerpunkt setzen die Sozialist*innen auf den Schutz vor Diskriminierung, sei es am Arbeitsplatz, bei der Blutspende oder im Grundgesetz. Das TSG soll abgeschafft werden, Opfer fremdbestimmter Operationen entschädigt, die Rechte trans* und intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher gestärkt und die Gesundheitsangebote verbessert werden. Last but not least setzt sich die Partei auch für queere Geflüchtete ein und fordert neben umfassendem Asylschutz insbesondere eine dezentrale Unterbringung.
Die FDP macht in ihrem Wahlprogramm gegenüber ihrem Wahlprogramm 2017 einen Schritt rückwärts. Die zur Letzten Bundestagswahl proagierte „Verantwortungsgemeinschaft als Rechtsinstitut neben der Ehe“ wird still und leise zu den Akten gelegt. Stattdessen zeigt man lieber mit dem Finger auf andere und fordert Sanktionen für LGBTI-feindliche Regierungen. Positiv zu vermerken wären die Forderungen nach einem nationalen Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit und eine Erweiterung des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz um den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der „sexuellen Identität“ und ein vollständiges Verbot sogenannter „Konversionstherapien“. Forderungen, die sich so oder so ähnlich auch bei SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke finden. Der nationale Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit soll: „Diskriminierungen, Beleidigungen und Gewalt wirksam entgegentreten. Bundes- und Länderpolizeien sollen LSBTI-feindliche Straftaten bundesweit einheitlich erfassen, sie in ihrer Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit berücksichtigen, die Ermittlungsdienste entsprechend schulen und LSBTI-Ansprechpersonen benennen. Homo- und transfeindliche Gewalt muss im Strafgesetzbuch genauso behandelt werden wie rassistische Gewalt. Beratungs- und Selbsthilfeangebote sowie die schulische und öffentliche Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wollen wir stärken.“ (Kleine Anmerkung: Homo- und transfeindliche Gewalt wird, wie rassistische und antisemitische Gewalt, bereits als „Hasskriminalität“ erfasst – sofern Polizist*innen wissen, dass sie das entsprechende Häkchen bei der Aufnahme der Anzeige setzen müssen –, vom Staatsschutz verfolgt und prinzipiell – so Gericht will – mit strafverschärfenden Zuschreibungen belegt.) Außerdem findet sich bei der FDP die Forderung nach einer Abschaffung des TSG und die Erstellung eins Selbstbestimmungsrechts im Programm.
AFD: „Die menschliche Spezies besteht aus zwei Geschlechtern, dem männlichen und dem weiblichen. […] Das biologische Geschlecht wirkt sich unmittelbar auf viele Verhaltensaspekte von Männern und Frauen aus. Die Geschlechtsrollenbilder in den verschiedenen Kulturen bauen darauf auf. Sie können variieren, allerdings darf der Einfluss kultureller und sozialer Aspekte nicht überschätzt werden. Der Mensch ist kein beliebig umformbares Geschöpf, sondern bewegt sich stets in den von der Natur gesetzten Grenzen.“ Nach dieser Logik befindet sich die Menschheit weiterhin in der Steinzeit, kulturelle Entwicklung hat nicht stattgefunden und findet nicht statt. Folgerichtig formuliert die AfD: „Das Geschlecht wird durch die Geschlechtschromosomen bestimmt.“ Homosexualität lehnt die Rechtsaußenpartei ab, ebenso Schulaufklärung. Trans* und Inter* kennt sie nicht und beleidigt sie.
Fazit: Bei Betrachtung der Wahlprogramme erscheinen mir einige der Ideen von Bündnis 90 / Die Grünen und Die Linke innovativ. Das gilt insbesondere für vielfältige Lebensentwürfe, die abgesichert werden könnten. Auch geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung fordern insbesondere die beiden Parteien ein. Ihr Einsatz für die grundlegende Revision des Transsexuellengesetzes wirkt ehrlich und fundiert. Das gilt auch hinsichtlich des Schutzes intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher. Das unterscheidet beide Parteien von SPD und FDP, die in den Koalitionen auf Bundesebene in den letzten Jahrzehnten eher dadurch aufgefallen sind, dass sie LGBTIQ*-Themen im Zweifel opfern, um in der Koalition mit der CDU/CSU zu bleiben. Die CDU/CSU lässt sich für ihr Wahlprogramm 2021 von der AfD inspirieren und weicht den aktuellen Fragen geschlechtlichen und sexuellen Zusammenlebens aus. Nach Lektüre der Hassbotschaften der AfD mag man als schwuler Mann nur kotzen – sie wird vom Verfassungsschutz zurecht als verfassungsfeindlicher Prüffall eingeordnet.
Merve meint
Vielen Dank fuer diese Zusammenfassung!