Rezensionen sind eine tolle Sache! Sie bieten Gelegenheit, mit individuellem Blick auf Bücher zu schauen, eigene Erfahrungen einfließen zu lassen und dem besprochenen Werk damit auch eine neue Ebene oder Dimension hinzuzufügen.
„Das Sternbild des Matrosen lesen“ ist aus dieser Sicht ein besonderes Buch. Aus einer im besten Sinn queeren Perspektive nähert es sich literarisch queerer Kultur, Politik und ihrer Verschränkung an. Salih Alexander Wolter – ein guter Freund von mir, daher kann und soll diese Besprechung auch nicht den Anschein von Objektivität erwecken – hat in diesem, im renommierten Psychosozial-Verlag erschienen Werk verschiedene Texte zusammengefasst (teilweise überabreitet) und weitere ergänzt. Überwiegend wurden die Beiträge in den Rosigen Zeiten erstveröffentlicht. Insofern ist der Band auch eine kleine Liebeserklärung an diese schöne Zeitschrift.
Bereits in seiner Einführung macht Salih Alexander Wolter deutlich, worum es ihm in diesem Band geht: Ausgehend von Titelbild, dem Bild einer wild beschrifteten und mit Löchern versehenen Klotür – einer Klappe – entwickelt Salih aus dem „Klappentext“ einen Zugang zur queeren Verortung und zeichnet eben jene Straßenkultur als Teil homosexueller Befreiungsbewegung nach. Er wendet sich gegen eine Normalisierung und betont gerade das politische Element insbesondere schwuler Subkultur.
„Es geht für mich darum, diese Ambivalenz auszuhalten. Die Klappe steht für eine ältere schwule Lebensweise, deren Reste ich noch mitbekommen durfte – und deren Untergang in einer Gesellschaft in der jeder „nur noch in seiner Klasse fickt“, wie es Hocquenghem vorhersah[…] und wie es heute durch Grindr und Co erreicht zu sein scheint[…]“ (S.27).
Identitäten und ihre Auflösung und Wechsel finden sich bereits bei Klassikern wir Jean Genet, Juan Goytisolo und Hubert Fichte. Interessant dabei ist, wie eben jene mithelfen können, aktuelle Debatten um Identitätspolitiken queer aufzulösen und zu bearbeiten. Dies gelingt, indem der Autor neben dem Werk auch die politischen und persönlichen Umstände, in denen die Autor*innen arbeiteten, einfließen lässt. In diesem Zusammenhang macht auch der einzige explizit politische Text, der sich gerade nicht mit Autor*innen befasst, Sinn. Darin befasst sich Salih mit Queer Nation Building in Berlin Schöneberg. Er wendet sich gegen eine Vereinnahmung schwuler Geschichte für den aktuell virulenten antimuslimischen Rassismus. Vielmehr müsse schwule – und queere – Geschichte auch darauf geprüft werden, wo sie rassistisch und antisemitisch ausschließend war. Es geht um gemeinsames Lernen.
Und da landet man sogleich wieder bei Literatur. Nicht umsonst kommt Juan Goytisolo für sich selbst dabei an, dass er, weil er in seiner urbanen Umgebung kontinuierlich auf türkische Graffiti stößt, Türkisch lernen möchte. Möglichkeiten bei sich selbst sehen – das ist die Kunst! Und es ist die Herausforderung. Und hier ist für mich die Abschlusspassage aus Salihs Buch einprägsam, die auf den Autor küçük iskender verweist: Denen, „die das Lächeln aus unserem Gesicht, die Frechheit aus unserem Herzen und die Aufrichtigkeit aus unserem Gehirn ausreißen wollen, sollen wir nicht nur das Wort, sondern auch die Körpersprache entgegensetzen. Schlagen wir sie!“ Literatur, Politik – und auch Freundschaft – gehen zusammen. Lassen wir uns darauf ein. Lassen wir uns auch auf Literatur ein!