Ende März rauschte es mal wieder im hannoverschen Blätterwalt: „Cancel-Culture“ titelte etwa die HAZ.
Es ging um den Auftakt einer rassimuskritischen Reihe im Rahmen der internationalen Wochen gegen Rassismus, die die Stadt verantwortete.
Erst einmal zu den Fakten:
Der Historiker und Afrikaexperte Prof. Dr. Helmut Bley wurde nach eigener Aussage ausgeladen. Ursprünglich sollte er zum Thema „Kolonialgeschichte von Afrikanern und Afrikanerinnen her denken“ vortragen. Im Vorfeld fand ein Vorbereitungstreffen statt, an dem neben Prof. Bley die Initiative für Diskriminierungssensibilität und Rassismuskritik (IDiRa) teilnahm. Die Initiative sollte sich nach dem genannten Vortrag Bleys mit einer Petition vorstellen und zur Diskussion einladen.
Im Anschluss an diese Beratung nahm die Initiative (wohlgemerkt intern verkündet) von einer gemeinsamen Veranstaltung Abstand, da man, so die Initiative in einer später (am 5.4.2021) auf Instagram (https://www.instagram.com/p/CNRtJs-nzeD/) verbreiteten Stellungnahme, nicht den Eindruck habe, dass Prof. Bley bereit sei, die eigene Position zu reflektieren und auch aus dieser Sicht zu arbeiten. Außerdem vermisste man einen wertschätzenden Umgang zwischen den Beteiligten. Nie habe man jedoch gefordert, die Veranstaltung abzusagen, der Stadt jedoch vorgeschlagen, bei diesem Thema mehr mit Initiativen Schwarzer Menschen zusammenzuarbeiten.
In seiner öffentlichen Erwiderung (http://netzwerk-erinnerungundzukunft.de/diskussionsforum/) widerspricht Bley implizit dem Ansinnen der Initiative und fordert dazu auf, seine Sicht als die wissenschaftliche, beruhend auf den philosophisch und wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen seit der Aufklärung, zu akzeptieren. IDiRa hingegen würde nur auf Basis eines „Identitäts-Dogmas“ am Gespräch teilnehmen und seine Nichtberücksichtigung fordern.
Als Ergebnis dieses Vortreffens hat die Stadt selbst entschieden, diese Veranstaltung abzusagen, was die Initiative begrüßt. Bleys Ansicht nach hat hingegen „eine Referentin aus dem Oberbürgermeisterbüro die Einladung zum 18.3. mit Rücksicht auf grüne Extremistinnen blockiert“ (Man beachte die Genderung!).
Aus diesem Vorgehen „Cancel-Culture“ herbeireden zu wollen, erschließt sich nicht.
Einordnung und Bewertung:
Ja, es hat sich einiges geändert: Marginalisierte Positionen, wie hier diese Schwarzer Menschen, verlangen inzwischen gehört zu werden und können dies einfordern. Das ist gut so und ein Ergebnis jahrelanger Kämpfe um Anerkennung und Gehör. Genauso kann und muss sogar verlangt werden, dass sich Wissenschaftler*innen selbst hinterfragen, dass die Erkenntnis, dass Wissenschaft immer auch gesellschaftlich eingebunden und geprägt ist, wahrgenommen wird und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden.
Ich habe in den letzten Monaten sehr viel über Rassismus gelernt – nämlich indem ich mich mit einigen Büchern der Schwarzen deutschen Frauenbewegung beschäftigt habe: „Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (hg. von May Ayim, Katharina Oguntoye, Dagmar Schultz), „Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus“ (von Noah Sow) und den aktuellen Bestseller „exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen“ (von Tupoka Ogette). Auch hatte ich die Möglichkeit an einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe der DFG-VK zu Rassismus und Friedensarbeit per Webinar teilzunehmen, mit Schwarzen Referent*innen. Dies ergab eine Perspektive, die ich von einer weißen Person so nicht erfahren kann, einfach weil rassistisch funktionierende Strukturen für weiße Personen nicht sichtbar sind. Rassismus auf den offen sichtbaren rechtsradikalen Rassismus zu reduzieren reicht nicht aus. Eigenes rassistisches Handeln zu hinterfragen, scheint mir ein mindestens ebenso wichtiger Ankerpunkt zu sein. Die entsprechende Lektüre endlich zur Kenntnis zu nehmen wäre ein erster Schritt.
Was derzeit hingegen leider bei einigen sonst eigentlich Interessierten geschieht, ist, dass sie sich hinter Kampfbegriffen wie „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ verbergen und sich so einer Diskussion bisheriger dominanter gesellschaftlicher (also auch wissenschaftlicher) Vorannahmen entziehen. Der Begriff „weiß“ steht übrigens, entsprechend der Definitionen von Rassismus – siehe etwa bei Noah Sow –, für eine im Kontext von Rassismus dominante Position, „Schwarz“ für eine marginalisierte Position – beide Begriffe stehen also nicht für vermeintlich essenzialisierbare Merkmale wie Hautfarbe o.ä. Mit dem Verstecken hinter diesen Kampfbegriffen wird insbesondere Weißsein, aber auch Heterosexualität, als Norm gesetzt und nicht als Identität, wogegen Schwarze, feministische und/oder queere Positionen als „Identitätspolitiken“ aus der Debatte ausgeschlossen werden sollen. Schwarze, feministische und/oder queere Positionen seien „zu emotional“ und parteiisch, anstatt die Frage zu stellen: Warum gilt die von Diskriminierung betroffene Position/Person oft als „aggressiv“, als „nicht neutral“, als „nicht objektiv“ – die privilegierte Position hingegen als „neutral“ und „objektiv“? Analog ist es mit einer „Cancel Culture“: Marginalisierte Gruppen werden per se gecancelt, sie tauchen nämlich erst gar nicht auf, wohingegen Kritik an bisher nicht hinterfragten Positionen nichtmarginalisierte Personen gewiss nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden lassen. Ein Call out (was hier nicht einmal stattgefunden hat), also ein öffentliches Auseinandersetzen mit zu kritisierenden Personen und Positionen, ist eine der wenigen Optionen die marginalisierten Positionen bleiben, um von privilegierten, mächtigen Personen Verantwortung für ihr Handeln einzufordern. Das ist keine „Cancel Culture“, sondern ein Zurückgewinnen zumindest eines kleinen Stücks öffentlicher Debatte. Hingegen wird mit dem Vorwurf der „Cancel Culture“ die geäußerte Kritik unsichtbar gemacht und entzieht sich die privilegierte Seite der Debatte. Damit wird die inhaltliche Kritik unsichtbar. Hinzu kommt noch: Mit der Kennzeichnung der Kritik als „radikal“, „extremistisch“ oder „absolutär“ wird diese zudem in eine Ecke geschoben und weiter marginalisiert. Auch dieses Vorgehen hat Methode, wie wir selber auch aus langjähriger Erfahrung (beispielsweise in der Erinnerungskultur) wissen.
Was passiert nun? Von öffentlicher Seite, sei es Presse oder die regionale CDU, wird über „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ fabuliert. Sie nutzen dafür den Stadtrat, größere Tageszeitungen – eben die Mittel, die privilegierte Positionen so haben. Die geübte Kritik bleibt wieder einmal auf der Strecke, dabei wäre hier doch eine Auseinandersetzung so wertvoll!