Erinnerungskultur ist wichtig, um aus Geschichte lernen zu können. Gerade in einem Bundesland, in dem knapp 25 Prozent der Bewohner*innen bei der vergangenen Landtagswahl eine neonazistische Partei gewählt haben, die nur bedauert, dass Hitler den Krieg gegen die Welt nicht gewonnen hat. Wie schlecht muss die Staatsbürgerkunde der DDR gewesen sein, wenn heute 25 Prozent, meist noch in der DDR zur Schule gegangen, Neonazis wählen.
Erinnerungskultur – ein NIE WIEDER – ein Mahnen, aber auch ein Weiterentwickeln und Weiterforschen sind notwendig, auch um Demokratie weiterzuentwickeln. Es geht darum, scheinbar Sicheres zu hinterfragen und Widerspruch und Anecken nicht zu banalisieren und zu vereinnahmen, wie es etwa Querdenker*innen tun, die meinen im Namen Sophie Scholls zu sprechen oder Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie mit nationalsozialistischen Zwangsmaßnahmen und Morden gleichsetzen. Hier ist eine emphatische und lernende Erinnerungskultur ein notwendiger und wichtiger Baustein.
In Sachsen-Anhalt finden sich mit der Gedenkstätte Roter Ochse in Halle, einem berüchtigten Hinrichtungsort auch für Deserteure und sog. Wehrkraftzersetzer im Zweiten Weltkrieg, der Gedenkstätte für Opfer der „Euthanasie“ in Bernburg, der Gedenkstatte des KZ-Lichtenburg Prettin, der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen und der Gedenkstätte für die Opfer des KZ Langenstein-Zwieberge zentrale Orte, um die NS-Willkür thematisieren und den Opfern der Nazis gedenken zu können. Verbunden sind die Erinnerungsorte in ihrer Arbeit durch die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Neben den genannten finden sich weitere Gedenkorte, die Unrecht in der DDR thematisieren, darunter wiederum der Rote Ochse in Halle, die Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg und der Übergang Marienborn.
Im Gegensatz zu ähnlichen Institutionen in den westlichen Bundesländern hat hier die Erinnerungskultur demzufolge zwei Hauptthemen – die Gewichtung unter ihnen kann den Ton machen. Das von den Deutschen zwischen 1933 und 1945 begangene Unrecht kann unsichtbar werden, wenn der millionenfach von den Nazis verübte Mord mit Unrecht in der DDR gleichgesetzt wird. Gleichzeitig braucht es einen Raum, um Ungerechtigkeiten in der DDR und die Verfolgungs von Andersdenkenden zu thematisieren, wie es etwa in den westlichen Bundesländern nötig ist, die Berufsverbote und die Verfolgung von Andersdenkenden im Blick zu haben. Wie erinnert man angemessen, ohne aufzuwiegen – und ohne die Morde und Kriege der Nazis zu relativieren?
Erinnerungskultur ist immer abhängig von Politik und politischen Entscheidungsträger*innen. Daher ist ein Blick darauf, was die Parteien zur Erinnerungskultur zu sagen haben wichtig. Insbesondere dieses Bundesland ist hier wichtig, da es aufgrund einer starken und besonders neonazistischen AfD zu einem Brennglas auch der Auseinandersetzung um Erinnerungskultur werden könnte bzw. bereits ist.
Zuerst ein kurzer Blick zurück. In der vergangenen Legislatur beschränkten sich Entscheidungen zur Erinnerungskultur im Landtag auf ein Gesetz zur Unterschutzstellung des „Grünen Bandes“ – also des ehemaligen Grenzstreifens – auf dem Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt. Von der Linken gab es einen Antrag, den Tag der Befreiung von der Nazi-Diktatur als Gedenk- und Feiertag zu etablieren. Die AfD problematisierte in einem Antrag nicht die deutschen Konzentrationslager, in denen die nazistischen deutschen Menschen zur Arbeit zwangen, bei schlechtesten hygienischen und Ernährungsbedingungen, und ermordeten – vielmehr forderte die AfD, die Angriffe der Alliierte, um Hitler-Deutschland zu besiegen, zu verurteilen und einen Gedenkort zu schaffen. Umgesetzt wurde innerhalb der Legislatur ein Gedenkort im Foyer des Landtags, der an die Abgeordneten aus der Region des heutigen Sachsen-Anhalts erinnern soll, die Opfer der Nazis wurden.
Die Erinnerungskultur spielte also in der politischen Arbeit der letzten Legislatur keine bedeutende Rolle. Ob sich das ändern wird? Dazu habe ich mir die Wahlprogramme der Parteien zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt angesehen:
Die Partei Die Linke und die SPD interpretieren Erinnerungskultur insbesondere im Blick auf das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. So beschreibt die Linke ihr Selbstverständnis wie folgt: „Wir setzen uns für eine antifaschistische Erinnerungskultur und den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus als Feiertag ein. Wir werden Stätten der Erinnerung unterstützen, ihre Finanzierung ausbauen und sichern“. Die SPD wünscht sich: „Eine Stärkung der historischen Bildung, der Erinnerungskultur und des Gedenkens sowohl für die Gedenkorte in Sachsen-Anhalt als auch im Hinblick auf internationale Gedenkstättenfahrten und Jugendbegegnungen im Kontext historischen Lernens.“
Bündnis 90 / Die Grünen scheinen die differenzierte Auseinandersetzung zu scheuen und setzen die Konzentrationslager und Morde im Hitler-Faschismus mit dem Unrecht in der DDR in eins: „Wir sehen uns in der politischen Verantwortung, die Orte der Erinnerungskultur in Sachsen-Anhalt zu erhalten und die pädagogische Arbeit kontinuierlich weiterzuentwickeln. In Zeiten, in denen rassistische und nationalistische Tendenzen Zulauf erhalten, wollen wir an die Taten der nationalsozialistischen Diktatur und des DDR-Unrechtsstaates erinnern. Die Erinnerungsorte nehmen dabei eine wichtige Funktion ein.“ Der Bagatellisierung des Nationalsozialismus arbeiten sie so, wenn auch anders als die AfD, ebenfalls zu.
Noch schwieriger ist die Erinnerungskultur, die die CDU beschreibt. Bei ihr tauchen die Nazis gar nicht mehr auf, sondern werden unter dem Stichwort „Erinnerungskultur“ nur noch explizit die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und die kritische Auseinandersetzung mit der DDR thematisiert: „Das Gedenken an Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen am Ende des 2. Weltkrieges bleibt ein Teil unserer Erinnerungskultur. Die Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts und die Fragen der Kriegsfolgenbewältigung benötigen weiterhin Aufmerksamkeit in unserer schulischen und allgemeinen politischen Bildung. Den 20. Juni begehen wir als Gedenktag der Opfer von Flucht und Vertreibung und wollen mit ihm ein Zeichen für die europäische Verständigung setzen. Gesellschaftliche und kulturelle Kontakte und Verbindungen in die Herkunftsgebiete der Vertriebenen und Aussiedler werden wir im Sinne europäischer Gemeinsamkeit weiter pflegen. Die CDU bekennt sich dazu, im Rahmen des Bundesvertriebenengesetztes auch zukünftig wichtige inhaltliche Akzente für die Pflege des Kulturgutes unserer Aussiedler und Spätaussiedler zu setzen“
Immerhin: Unter der Überschrift „Gedenkstätten fördern“ taucht die Nazi-Zeit dann doch noch auf, allerdings in vollständiger Gleichsetzung mit der DDR, ohne auch nur kleinste Differenzierungen vorzunehmen: „Unser Land verfügt über zahlreiche Gedenkstätten zur deutschen Teilung und zum Unrechtsregime der DDR sowie zur Erinnerung an den Terror des Nationalsozialismus. Der Erhalt und die Arbeit dieser Gedenkstätten ist eine wichtige Investition in die Zukunft. Wir sehen ein besonderes Potential darin, das würdige Gedenken und die Dokumentation dieser Gedenkstätten mit der Vermittlung eines realen Bildes des Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus und des „Kalten Krieges“ zu verknüpfen.“
Bei der parlamentarisch nicht vertretenen FDP sucht man vergeblich Aussagen zur Erinnerungskultur im Wahlprogramm. Anders als im Landtag der letzten Legislatur verhält sich die neonazistische AfD im aktuellen Wahlprogramm ebenfalls nicht zur Erinnerungskultur.
Nicht nur in Sachsen-Anhalt wäre Einiges für eine lebendige und differenzierte Erinnerungskultur zu tun. Ohne Differenzierung gleitet Erinnerungskultur ins Banale ab und kann es nicht mehr gelingen, aus Geschichte Lehren für eine bessere zukünftige Gesellschaft zu ziehen. Entsprechend ist gerade von Parlamentarier*innen ein differenziertes Verständnis von Erinnerungskultur zu erwarten – und sollten wir als Zivilgesellschaft die Förderung von Gedenkorten und Aktivitäten für eine lebendige und differenzierte Erinnerungskultur einfordern.