erschienen in Rosige Zeiten, Oldenburg November 2022
„Beamtenmentalität“ prägte in Niedersachsen bereits im letzten Jahrzehnt den Umgang mit Queer. In den größeren Städten wurden einzelne Beratungsmöglichkeiten geschaffen, das große Flächenland blieb auf der Strecke. Der neue Koalitionsvertrag setzt diese Politik fort.
Nach der Wahl in Niedersachen bildete sich recht zügig eine Koalition aus SPD und Bündnis 90/ Die Grünen. Bereits die letzte Ausgabe der Rosigen Zeiten setzte sich intensiv mit den Wahlprogrammen der Parteien auseinander. Die Vorgängerregierung aus SPD und CDU zeigte in den letzten Jahren wenig Interesse, sich mit den Problemen auf dem Land, insbesondere im Hinblick auf Diskriminierung und den mangelnden Schutz für trans* und inter* Menschen zu beschäftigen.
Auch der neue Koalitionsvertrag zeigt die relativ geringe Bedeutung, die queeren Menschen in der Landespolitik beigemessen wird. Auf Seite 93 (von 137) taucht das Thema erstmals eigenständig auf – und entspricht im Wesentlichen den Ausführungen im Wahlprogramm der SPD. So sollen für Schulen bedarfsgerechte Angebote zum Thema LGBTIQ* geschaffen, ein Landesaktionsplan verabschiedet und ein Landesantidiskriminierungsgesetz auf den Weg gebracht werden. Die Forderung von B90/Grüne nach einer Beratungsstelle auf Landesebene mit Fachleuten konnte sich nicht durchsetzen, ebenso wenig die Forderung nach der Schaffung eines Netzwerkes von Unterstützungs- und Vernetzungsstrukturen für queere Menschen und die Forderung nach geschlechtergerechter Sprache.
Insbesondere trans* und intergeschlechtliche Menschen müssen weiter darauf vertrauen, das bundesdeutsche oder europäische Gerichte weitergehenden Abbau von Diskriminierungen ermöglichen, die Landesregierung will sich darauf beschränken geltendes Recht, insbesondere zur Dritten Option, umzusetzen. Aber auch hier wäre mehr notwendig: So wären aktuell Umsetzungsbestimmungen erforderlich, wie das Verbot geschlechtszuweisender und -vereindeutigender Eingriffe bei intergeschlechtlichen Minderjährigen im Land umgesetzt werden könnte. In Ausnahmefällen sollen Familiengerichte hier Entscheidungen treffen – die dortigen Richter*innen haben in der Regel keinerlei Kenntnis von Intergeschlechtlichkeit. Entsprechend wären Fortbildungen nötig. Dasselbe gilt für KiTa, Jugend- und Behindertenhilfe. Seit 2021 ist hier bundesrechtlich vorgesehen, dass „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern“ sind (Sozialgesetzbuch 8, §9). Hier wären Ausführungsbestimmungen auf Landesebene erforderlich, ebenso Fortbildungsangebote, weil noch immer nicht alle Fachkräfte ausreichend Bezug zu den Bedarfen transidenter, nichtbinärer und intergeschlechtlicher jungen Menschen haben. Soviel Konkretheit schafft allerdings der Koalitionsvertrag nicht – er bleibt unkonkret.
Ob die Entwicklung eines Landesaktionsplanes, der sich an die bisherige „Kampagne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Niedersachsen“ anschließen soll, eine merkliche Verbesserung erreichen wird, muss sich zeigen. Konkrete Vorstellungen dazu finden sich nicht bei den Koalitionsparteien.
Im Wortlaut planen sie: „Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, inter*, nicht-binäre und queere Menschen (LSBTIQ*) sind Teil unserer Gesellschaft. Sie sollen in Niedersachsen frei, selbstbestimmt und ohne Angst leben können. Um queeres Leben in Niedersachsen sichtbar zu machen und Vorurteile abzubauen, wollen wir nach dem Vorbild der „Kampagne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Niedersachsen“ einen Landesaktionsplan auflegen. Beratungsangebote wollen wir bedarfsgerecht ausbauen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Dritten Option werden wir konsequent in allen Bereichen der unmittelbaren und mittelbaren Landesverwaltung umsetzen. Wir begrüßen deshalb auch das geplante Selbstbestimmungsgesetz auf Bundesebene.
Außerdem streben wir an, den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität in der Niedersächsischen Verfassung zu verankern.“ Dieser Koalitionsvertrag schafft Möglichkeiten und Freiräume. Ein Grund zum Jubeln ist er indes nicht. Er ist unbestimmt und vage und setzt nicht einmal die bundesrechtlichen Anforderungen im Landesrecht um. Anstatt dass Niedersachsen progressiv voranschreitet, wie es mit einer „kühlen“, sachlich und empathisch orientierten norddeutschen Bevölkerung möglich wäre, lässt sich das Bundesland von den Entwicklungen im übrigen Deutschland hin zu Toleranz und Akzeptanz treiben. Hier ginge deutlich mehr und eigentlich wäre ein „Motor Niedersachsen“ für Toleranz und Akzeptanz, für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung nötig. Hier ist die Beamtenroutine und hannoversche Bräsigkeit in den Amtsstuben im Weg.