Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Verfolgung von Homosexuellen in der Nazi-Zeit ist in den letzten Jahren ein wenig ins Stocken geraten, zugleich hat sie einige neue Impulse und Präzisierungen erfahren[i]. Da ist es interessant, wenn ein neues dickes Buch erscheint, das – als Dissertation – vorhat, sich dem Thema grundsätzlich zu nähern. Autor ist Alexander Zinn. Der Alexander Zinn, der als Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg e.V. (LSVD) noch Anfang der 2000er Jahre wiederholt mit rassistischen Zuspitzungen und Polemiken aufgefallen war. Na gut, Menschen können sich ändern. Dann sind wir mal neugierig.
Alexander Zinn hat vor einiger Zeit die Biografie des wegen §175 inhaftierten Rudolf Brazda veröffentlicht. Im Rahmen seiner Recherchen entdeckte Zinn zahlreiche Unterlagen im regionalen Raum Altenburger Land. Auf Basis dieser Daten entstand das Buch „Aus dem Volkskörper entfernt“? – Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus, das hier zu besprechen ist:
Auf Basis der Materialsichtung ist eine Mikrostudie entstanden, die anhand zahlreicher Einzelfälle und unter Einbeziehung des theoretischen Konzepts des „Stigma-Managements“ eine Genese männlicher Homosexualität vom Beginn des 20. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus zeichnet. Es ist – mit dieser Reichweite – eine durchaus interessante Mikrostudie. Allerdings überträgt Zinn seine Ergebnisse sogleich pauschal auf das ganze Dritte Reich und versucht sich auch an weiteren gewagten Thesen. 69 Fälle, bzw. 462 auf ganz Thüringen bezogen, dienen ihm also dazu, weitreichende Thesen aufzustellen. Dabei setzt er das Altenburger Land idealtypisch für den gesamten ländlichen Raum. Er benennt zwar die Besonderheiten (hochgradig protestantisch, eher politisch links geprägt, kaum städtisches Potenzial), bleibt aber trotz weitschweifiger Ausführungen die Antwort auf die Frage schuldig, was genau das Altenburger Land so idealtypisch macht. Das ist gerade deshalb eine ärgerliche Leerstelle, weil Zinn in seiner Arbeit in geradezu missionarischem Eifer einen Feldzug gegen die bisherige Forschung zum Thema führt. Insbesondere hat er es auf Burkhard Jellonek, Rüdiger Lautmann und Klaus Theweleit abgesehen – bekannte Größen für das Themenfeld Homosexualität und Nazi-Zeit.[ii]
Es gibt eine weitere Außergewöhnlichkeit in Bezug auf eine Dissertation: Zinn lässt sich nicht auf eine wissenschaftliche Distanz ein, sondern verbindet seine (Ergebnis-)Darstellungen mit einer politischen Agenda. Drei Beispiele:
- Als Einführung seiner Arbeit fühlt er sich bemüßigt, ausgiebig die Queer Theory zu kritisieren, die er entsprechend konsequent in Anführungszeichen setzt, um dann doch mit ihr festzustellen, dass eine essenzialistische Sichtweise nicht weiterhilft.
- Zweitens: Die Sowjetische Besatzungszone/DDR. Das oberste Gericht der DDR hat die Paragrafen §175 und 175a im Gegensatz zu den westlichen Besatzungszonen, bzw. der späteren BRD, als Unrecht erkannt. Bereits 1946 waren von der Sowjetunion die von den Nazis vorgenommenen Gesetzesverschärfungen als NS-Unrecht eingeordnet und aufgehoben wurden. Für die DDR führt Zinn einen Verweis an, dass die Änderungen entsprechend „von oben“ erfolgt seien. Einerseits bleibt offen, wer „oben“ sein könnte. Andererseits erläutert er nicht seine Sicht, dass das ein Problem wäre. Wie sollten Menschen, die in ihrer großen Mehrheit Nazis waren, auf einmal zu Demokrat*innen geworden sein – ohne einen längeren Bildungsprozess?
- Dritter Punkt ist die offene Ablehnung Zinns, auch hinsichtlich lesbischer Homosexualität einen Diskriminierungs- und Verfolgungsstatus im NS anzuerkennen, obgleich es deutliche Hinweise in früheren Arbeiten ausgewiesener Expert*innen im Themenfeld gibt (vgl. Schoppmann, „Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, 1991; Schoppmann, „Verbotene Verhältnisse – Frauenliebe 1938 – 1945“, 1999). Ausführlich begründet Zinn, dass bei Homosexualität nur Männer gemeint seien und der Paragraf 175 nur für Männer gelte. Das hält er durch, obwohl im vom Deutschen Reich besetzten Österreich der entsprechende Strafparagraf sich sowohl gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen Männern als auch unter Frauen richtete. Hinweisen aus der Forschung, dass für die Internierung von Frauen mit schwarzem Winkel in Konzentrationslager der sexuelle Verkehr eine Rolle spielen konnte, geht Zinn nicht nach. So kommt er zum Ergebnis: „Dass eine Frau wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen mit einer anderen Frau nach §175 verurteilt worden wäre, konnte bislang nicht nachgewiesen werden.“ (S. 285) In der angegebenen Fußnote heißt es: „Selbst wenn es zu einer solchen Verurteilung gekommen wäre, hätte der betroffenen Frau der Instanzenweg zum Oberlandesgericht bzw. Reichsgericht offengestanden, von dem viele homosexuelle Männer Gebrauch machten. Diese Gerichte hätten ein solches Urteil mit großer Wahrscheinlichkeit aufgehoben – doch es ist nicht bekannt, dass sie sich jemals mit dieser Frage auseinandersetzen mussten. Ein solcher Einzelfall könnte also selbst dann, wenn das Urteil rechtskräftig geworden wäre, kaum als Ausdruck des Willkürcharakters der NS-Justiz betrachtet werden, geschweige denn als Beleg für eine strafrechtliche Verfolgung lesbischer Liebe.“ (S. 594) Aus der Frage der Verfolgung von Frauen nach §175 entwickelt Zinn damit auf S.285ff und im zugehörigen Anmerkungsapparat (etwa S. 594) das Ergebnis, dass es keinerlei Verfolgung „lesbischer Liebe“ in der Nazi-Zeit gegeben habe. Zugleich nimmt Zinn die grundlegende Rechtsstaatlichkeit der Gerichte im NS an – eine Aussage, der ich auch aus meinen Forschungen zu Deserteuren und Gehorsamsverweigerern in der Nazi-Zeit widersprechen muss. Hier zeigt sich, wie wichtig die Forschungen von Historikerinnen wie Claudia Schoppmann wirklich sind. Zuletzt haben etwa Birgit Bosold und Stephanie Kuhnen in Lesben raus! Für mehr lesbische Sichtbarkeit (2017) darauf hingewiesen, dass selbstverständlich auch der lesbischen Frauen, die im NS verfolgt und in KZs ermordet wurden, gedacht werden müsse.
Die monokausale Sichtweise ist es, die den gesamten Band kennzeichnet. Obwohl Zinn immer und immer wieder betont, dass ein differenzierter Blick notwendig sei, bringt er genau diesen nicht in die Arbeit ein.
Damit sind die Ergebnisse von Zinn folgerichtig: Burkhard Jellonek habe mit seinen Untersuchungen unrecht, Rüdiger Lautmann habe mit seinen Forschungen zum NS unrecht, ebenso wie Klaus Theweleit mit seinen Faschismustheorien. Hingegen kommt Zinn zum klaren Ergebnis: Die Verfolgung nach §175 erfolgte als Ergebnis des Röhm-Putsches. Die Verfolgung sei der Angst vor homosexuellen Machtzirkeln geschuldet und von Heinrich Himmler organisiert gewesen. Adolf Hitler habe die Verfolgung hingegen bestenfalls geduldet. Himmler sei es auch gewesen, der nach dem missglückten Röhm-Putsch die Jagd auf homosexuelle Männer eröffnete habe, Prioritiätenverschiebungen im Laufe des Krieges hätten dazu geführt, dass die Verfolgung abgeschwächt worden sei. Dass eine Verfolgung nach §175 (bzw. insgesamt in Bezug auf Homosexualität) aus machttaktischen Gründen genutzt wurde, um unliebsame Gegner auszuschalten (etwa Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen – oder eben ‚Widersacher*innen‘ in der NSDAP), wird von Zinn zurückgewiesen.
Bei Zinn waren alle nach §175 Verurteilten homosexuell und dass einige nach dem Krieg anderes behaupteten, wäre der allgemeinen Homophobie entsprungen. Überhaupt die Homophobie. Hier macht Zinn wahrhafte Zirkelsprünge. Um Jellonek zu widerlegen, konstruiert er eine „geringe“ Denunziationsrate und ein allgemeines Nichtinteresse in der Bevölkerung an der Verfolgung homosexueller Männer. Gleichzeitig behauptet er jedoch, dass nach 1945 die allgemeine Homophobie in der Bevölkerung maßgebend für die weitere Verfolgung gewesen wäre. Der Widerspruch wird von Zinn nicht aufgelöst.
Auch befasst sich Zinn so gar nicht mit den ‚anderen‘ Homosexuellen, denen man sich in einem Buch mit einem so umfassenden Titel zuwenden könnte: Homosexuelle, die sich in den übrigen Opfergruppen fanden – etwa unter den ermordeten Jüdinnen und Juden, den ermorden Rrom_nja und Sinti_zza – spielen bei ihm keine Rolle. Auch geht er kaum den zum Teil beachtlichen Karrieren nach, die einige homosexuelle Männer im NS machten – das ist ein wichtiges Themenfeld, dem man sich ebenfalls zuwenden muss, will man das Thema „Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus“ angemessen bearbeiten. So gerät eine durchaus interessante Aussage von Zinn für das Altenburger Land (und vielleicht insgesamt für den ländlichen Raum), dass es dort für die homosexuellen Männer (der Mehrheitsgesellschaft) ein zwar von Stigmatisierung geprägtes, aber trotzdem relativ lebendiges homosexuelles Leben gegeben habe, zur Randnotiz – obgleich sie wichtige Einsichten bringen könnte.
Ergo: Das Buch ist äußerst bruchstückhaft und geht im Forschungsstand und der Qualität der Betrachtung deutlich hinter bisherige Arbeiten[iii] zurück. Vor dem Hintergrund des ‚Kleinkriegs‘ gegen einzelne Autor*innen und mitunter äußerst popularisierter Sprachwahl (für eine Dissertation ungewöhnlich) schafft Zinn es nicht, die Möglichkeiten einer solchen Untersuchung auszuschöpfen. Als mulmiger Eindruck bleibt zurück, dass Zinn den NS scheinbar auch zu relativieren sucht.
Alexander Zinn: „Aus dem Volkskörper entfernt“? – Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus, Campus-Verlag Frankfurt am Main 2018
[i] Yılmaz-Günay, Koray & Wolter, Salih A. (2013). Pink Washing Germany? Der deutsche Homonationalismus und die »jüdische Karte«. In Duygu Gürsel, Zülfukar Çetin & Allmende e.V. (Hrsg.). Wer MACHT Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen (S. 60–75). Münster: Edition Assemblage. https://salihalexanderwolter.de/wp-content/uploads/2012/10/Pink-Washing-Germany_-Der-deutsche-Homonationalismus-und-die-j%C3%BCdische-Karte.pdf
[ii] Lautmann, R., Grikschat, W., Schmidt, E. (1977): Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Lautmann, R. (Hrsg.): Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S.325-365.
Jellonnek, B., Lautmann, R. (Hrsg., 2002): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Paderborn: Schöningh.
Theweleit, K (1977): Männerphantasien.
[iii] Jellonnek, B., Lautmann, R. (Hrsg., 2002): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Paderborn: Schöningh.
Lautmann, R., Grikschat, W., Schmidt, E. (1977): Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Lautmann, R. (Hrsg.): Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S.325-365.
Schoppmann, C (1991): Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, 1991.
Schoppmann, C (1977):Verbotene Verhältnisse – Frauenliebe 1938 – 1945.
Theweleit, K (1977): Männerphantasien
Yılmaz-Günay, Koray & Wolter, Salih A. (2013): Pink Washing Germany? Der deutsche Homonationalismus und die »jüdische Karte«. In Duygu Gürsel, Zülfukar Çetin & Allmende e.V. (Hrsg.). Wer MACHT Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen (S. 60–75). Münster: Edition Assemblage. https://salihalexanderwolter.de/wp-content/uploads/2012/10/Pink-Washing-Germany_-Der-deutsche-Homonationalismus-und-die-j%C3%BCdische-Karte.pdf