Bereits im Vorfeld der Wahlen beschäftigte ich mich mit den Programmen der Parteien.
Mein Ergebnis war eindeutig: In einer Regierung mit der CDU sind kaum Fortschritte zu erreichen. Das ist zum Glück Geschichte. Die drei Regierungsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP stehen Forderungen nach Diversität, gesellschaftlicher Akzeptanz und dem Abbau von Diskriminierung offener gegenüber. Und kurz gesagt: Der Koalitionsvertrag erfüllt dieses Versprechen (weitgehend). Kommen einige Verbesserungen in den nächsten vier Jahren? Und werden sie eher oberflächlich oder grundsätzlich sein? Hierzu ein paar Einschätzungen, nachdem ich den Koalitionsvertrag gelesen habe:
Unter der Überschrift „queeres Leben“ haben die neuen Regierungsparteien im Koalitionsvertrag ihre Projekte zusammengefasst. Die wichtigste Aussage im Koalitionsvertrag betrifft die Abschaffung des Transsexuellengesetzes – es soll durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Insbesondere soll der Geschlechtseintrag im Standesamt per Selbstauskunft geändert werden können. Mühselige Verfahren, teure Gutachten und Seelenstrips vor Psychater*innen sollen damit entfallen. Wichtig ist dabei, dass die Bezahlung der Kosten geschlechtsangleichender Maßnahmen durch die Krankenkasse weiter gesichert ist. Konkret heißt es (Seite 119):
„Wir werden das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Dazu gehören ein Verfahren beim Standesamt, das Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht, ein erweitertes und sanktionsbewehrtes Offenbarungsverbot und eine Stärkung der Aufklärungs- und Beratungsangebote. Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen müssen vollständig von der GKV übernommen werden. Wir werden im Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung Umgehungsmöglichkeiten beseitigen. Für Trans- und Inter-Personen, die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind, richten wir einen Entschädigungsfonds ein.“
Das zweite große Thema ist die Erstellung und Umsetzung eines ressortübergreifenden Nationalen Aktionsplans für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Schulische Aufklärung, Angebote für ältere LSBTI, Diversity Management in der Arbeitswelt sind hier die Schlagworte. Hier darf man gespannt sein, wie der Plan dann in der Umsetzung aussehen und mit welchen finanziellen Mitteln er unterlegt sein wird.
Weitere wichtige Punkte aus queerer Perspektive im Vertrag sind:
- Die Abschaffung des Blutspendeverbots,
- die Prüfung für ein vollständiges Verbot von Konversionsbehandlungen,
- die Abschaffung von Diskriminierungsrechten im Arbeitsrecht für Tendenzbetriebe wie Kirchen, solange sie nicht den direkten Verkündungsdienst betreffen,
- Anerkennung von Eingetragener Lebenspartnerschaft und gleichgeschlechtlicher Ehe europaweit,
- der besondere Schutz queerer Geflüchteter und
- die Aufnahme von Hasskriminalität gegen queere Menschen in die Strafzumessung bei Verurteilungen.
- Und endlich wird auch die rechtliche Mütterschaft zweier Frauen (allerdings nur, wenn sie verheiratet sind) für ein Kind eingeführt.
Die bisher genannten Projekte zielen auf Schutz von queeren Menschen und den Abbau von gegen sie gerichteter Diskriminierung. Das gesellschaftliche Leben grundsätzlich verändern könnte jedoch ein anderes Ziel der neuen Bundesregierung. Sie plant eine komplette Neuorientierung im Familienrecht (Seite 101):
„Wir werden das Familienrecht modernisieren. Hierzu werden wir das „kleine Sorgerecht“ für soziale Eltern ausweiten und zu einem eigenen Rechtsinstitut weiterentwickeln, das im Einvernehmen mit den rechtlichen Eltern auf bis zu zwei weitere Erwachsene übertragen werden kann. Wir werden das Institut der Verantwortungsgemeinschaft einführen und damit jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglichen, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen Vereinbarungen zu rechtlicher Elternschaft, elterlicher Sorge, Umgangsrecht und Unterhalt schon vor der Empfängnis ermöglichen.“
Wird dieses Vorhaben umgesetzt, das an den französischen „Zivilen Solidaritätspakt“ (PACS) erinnert, können wir mit konkreten Verbesserungen für queere Menschen und für die Gesamtheit rechnen. In Frankreich erfreut sich der PACS großer Beliebtheit und wird seit längerer Zeit schon jährlich häufiger geschlossen als die Ehe.
Aber auch das Thema Anpassung des Grundgesetzes hat sich die Koalition auf die Agenda gesetzt. Die Frage ist, ob die Koalition die Änderung ohne die Unterstützung der CDU überhaupt durchsetzen kann… Konkret soll Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes um ein Verbot der Diskriminierung wegen „sexueller Identität“ ergänzt werden, zudem soll der Begriff „Rasse“ im Grundgesetz ersetzt werden.
Fazit: Der Koalitionsvertrag klingt erstmal gut, die Frage ist nun, was davon umgesetzt wird. Gerade die FDP tat sich bei konkreten Umsetzungsschritten nicht aktiv hervor, aber auch SPD und Bündnis 90 / Die Grünen fanden in Regierungsverantwortung stets „wichtigere Themen“. Gerade wenn die Koalition unter Druck steht, könnten die Themen wieder in den Hintergrund treten. Entsprechend wird es auf eine starke queere Opposition von links ankommen, damit die Ankündigungen auch umgesetzt und im Detail verbessert werden.